"Fremde am Pier": Das Schweigen der Familie
Tash Aw ist in Malaysia aufgewachsen, in einer Familie chinesischer Einwanderer. Über diese Familie hat er ein Sachbuch geschrieben, das nun auf Deutsch vorliegt.
"Das Buch handelt vom Schweigen", sagt Tash Aw über "Fremde am Pier. Porträt einer Familie". Seine Großväter flohen Anfang des 20. Jahrhunderts aus China vor der Armut und ließen sich in Malaysia nieder. Aber Details kennt er kaum. Denn es gelte in chinesischen Familien als beschämend, über eine schmerzhafte Vergangenheit zu sprechen. Man blicke deshalb nur in die Zukunft. Das komplette Gegenteil zur Erinnerungskultur in Europa also, wo Tash Aw studiert hat und heute lebt. "Fremde am Pier" ist sein geradezu verzweifelter Versuch, eben doch etwas über die Geschichte seiner Familie zu erfahren und die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu klären.
Tash Aw schreibt mit viel Einfühlungsvermögen
Aw erinnert sich im Buch an seine Kindheit in Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur. Dort besuchte er eine Jungen-Schule: "Reine Jungen-Schulen sind kein angenehmer Ort für jemanden, der wie ich anders ist. Ich war fleißig, mochte Bücher, ich war schwul - ich war also in der Schule unbeliebt. Ich bin regelmäßig von Mitschülern verprügelt, ausgeraubt und erpresst worden: Schläge oder Taschengeld. Ironischerweise ist es allen Schülern, die wie ich als Opfer galten, gelungen, gebildete Menschen zu werden. Die Schüler, die aber als hart und männlich wahrgenommen wurden, sind später in aussichtslosen Jobs gelandet."
Im Buch erzählt er, wie er später einen seiner Peiniger wiedersieht, als Bedienung in einem Fast-Food-Laden. Er habe damals keine Schadenfreude empfunden, sondern Mitleid, schreibt Aw. Dieses Einfühlungsvermögen macht überhaupt einen großen Reiz dieses Textes aus.
Ein glückliches Leben auf dem Land
Dass das Buch so dünn (im englischen Original sind es nicht einmal hundert Seiten) und in schnörkelloser Sprache geschrieben ist, hat einen persönlichen Grund: Aw wollte die Lektüre seinen Eltern erleichtern. Ein "glückliches Leben", schreibt der Autor, habe er als Kind auf dem malaysischen Land gehabt. Immer dann, wenn er die Schulferien im Dorf bei seinen Großeltern verbracht habe, in einer Kombination aus Wohnhaus und Gemischtwarenladen. Darin half der Junge aus und nahm den lokalen Akzent an, hatte aber die Sorge, als Hochstapler aus der Großstadt entlarvt zu werden:
Ein Nerd. Ein Snob. Jemand, der seiner eigenen Familie fremd ist. Ich hatte Angst, dass sie mich ansehen könnten und denken würden, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Leseprobe
Sein Großvater sei nie offen liebevoll mit ihm umgegangen, weil ihm das seine chinesische Kultur und Erziehung nicht erlaubt hätten. Herzlich gewesen sei dagegen seine Großmutter. Im zweiten und letzten Teil von "Fremde am Pier" macht Aw sie zur Hauptfigur und spricht sie an, als würde sie noch leben:
Wie lange hast du gebraucht, um herauszufinden, was dein Mann vor eurer Heirat durchgemacht hatte? Dass er während des Krieges gefoltert worden war, wie so viele chinesische Männer auf dem Land, und er nun keine Kinder mehr zeugen konnte. Leseprobe
Eine Mauer des Schweigens
Insgesamt findet Tash Aw aber wenig über seine Wurzeln heraus. Denn auch bei seinen Eltern stößt er regelmäßig auf eine Mauer des Schweigens. Mit diesem Schweigen habe er allerdings heute halbwegs seinen Frieden gemacht: "Mein Vater hatte eine äußerst schwierige, von Armut geprägte Kindheit. Nur eine Generation später konnte ich schon studieren und den gutbürgerlichsten Beruf überhaupt ausüben, den des Schriftstellers. Das habe ich wohl teilweise dem Schweigen meines Vaters zu verdanken. Er hat alles Schmerzhafte zurückgehalten, sodass ich davon als Kind nicht erdrückt werden konnte."
"Fremde am Pier" ist ein kluges und berührendes Buch über die schwierige Suche nach den eigenen Wurzeln.
Fremde am Pier. Porträt einer Familie
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87704-4
- Preis:
- 22 €