"Erzähl’s nicht deinem Bruder": Charmante Liebesgeschichte
Der im April verstorbene Meir Shalev gilt als einer der größten israelischen Dichter. Sein letzter Roman erzählt die ungewöhnliche Geschichte eines sehr schönen Mannes.
Der Erzähler heißt Itamar, er lebt seit Jahren in den USA und trifft sich bei seinen Besuchen in Israel immer mit seinem Bruder Boas. Sie reden über ihre Kindheit und ihre Eltern:
"Auch über die habe ich eine Geschichte für dich", sagte ich. Zuvor war ich sicher gewesen, dass ich sie, wie gewohnt, für mich behalten würde, aber wieder irrte ich mich. Die Worte, die bei mir lebenslänglich einsitzen, hatten einander vom frühen Abend an Ausbruchspläne gemorst und waren schließlich meinem Mund entflohen. Leseprobe
Meir Shalevs unwiderstehliche Sprache
Meir Shalev beherrscht einen ganz eigenen Ton mit hoher Leidenschaft und einer Prise Pathos, vom ersten Satz an unwiderstehlich. Seine Hauptfigur Itamar erzählt dem Bruder Boas eine erotische Geschichte von einer Frau, die sich vor ein paar Jahren in seine außergewöhnliche Schönheit verliebt hatte. Alle Menschen, die gern Bücher lesen, haben vermutlich schon tonnenweise Romane gelesen, die weibliche Schönheit lobpreisen. Ein Roman über einen wirklich schönen Mann, wohlgemerkt: nicht nur gut aussehend, sondern schön - das ist überraschend. Itamar leidet unter seiner Schönheit, er fühlt sich darin eingesperrt. In den Brudergesprächen geht es auch um die Eltern und deren Ehekrieg:
"Erinnerst du dich an den Stempelkrieg?", fragte Boas. Prompt deklamierten wir beide gemeinsam: "Der normale Anwaltsstempel, und der runde Notarstempel, und der Reliefstempel für mehrere Seiten auf einmal, und die irreversible Vollmacht für Immobilien, und der Stempel für die notariell beglaubigte Abschrift." "Wo ist der Originalgetreue?" äffte Boas ihn nach. "Wer hat den woanders hingetan?" "Und sie schreit zurück von unten: Und wo ist der seiner Ehefrau Getreue? Wer hat ihn mir weggenommen?" Leseprobe
"Erzähl’s nicht deinem Bruder": Liebeserklärung an eine Frau
Später musste Itamar als älterer Sohn die Botschaften der verfeindeten Eltern übermitteln. Itamar und seinem Bruder gelingt es, Witze über die Eltern zu machen. Boas möchte nun vor allem die Geschichte der Liebesnacht mit einer Frau hören, die Itamar nicht wieder gehen lassen wollte und dem stark kurzsichtigen Mann seine Brille und die Reservebrille versteckte. Sie verwickelte ihn in raffinierte Kämpfe und warf ihm vor, dass er in Wirklichkeit gar nicht bei ihr war, sondern eine andere Frau vermisste. Und ihr Gespür war durchaus zutreffend. Itamars größte und vielleicht einzige Liebe war eine Frau namens Michal. Er kann sie nicht vergessen und erinnert sich an den ersten Kuss:
Unsere Zungen sprachen zueinander, übersetzten, verstanden, jede in ihrer Sprache. Alle Kammern meines Herzens füllten sich mit ihrem Blut. Jedes meiner Körperteile stellte sich sein Gegenstück in ihrem Körper vor. Jede Zelle meines Fleisches bereitete sich auf jede Zelle ihres Fleisches vor. Die Muskelzellen wurden straff, die Nervenzellen prüften die Synapsen, die Samenzellen hielten den Atem an. Leseprobe
So erzählt dieser Roman vordergründig von einem über alle Maßen schönen Mann und ist doch, wie alle Romane von Meir Shalev, eine Verbeugung und Liebeserklärung an eine Frau - in ein reiches, zärtliches Deutsch übertragen von Ruth Achlama.
Erzähl’s nicht deinem Bruder
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
- Verlag:
- Diogenes
- Bestellnummer:
- 978-3-257-07267-9
- Preis:
- 24 €