Spiel zwischen Diesseits und Jenseits
"Die letzte Kränkung" heißt der schmale Band, den der Kieler Autor Christopher Ecker nach seinem monumentalen Tausendseiten-Roman "Fahlmann" geschrieben hat. Ein Werk mit blauer Schrift und blauem Leinenrücken. Die grauen unregelmäßig beschnittenen Pappdeckel des Buchs fransen an Rändern aus, wie die Wirklichkeit in Christopher Eckers phantastischer Geschichte aus der Zeit der deutschen Besatzung in der Bretagne. Andrea Ring hat den Autor in Kiel getroffen:
Mann ohne Gedächtnis
Ohne Gedächtnis, ohne Vergangenheit strandet der namenlose Held der "Letzten Kränkung" in einem bretonischen Fischerdorf. Ein Fremder oder doch Solanges verschollener Mann? "Das weiß ich nicht", gibt Ecker zu, "alle Leute kennen ihn zu gut. So dass wirklich der Eindruck entstehen könnte, dass er dieser Fischer Yann ist, der mal hinausfuhr und nicht mehr hinausgekommen ist. Indizien sprechen dafür, er kommt mit einem Boot dort an, alle kennen ihn, der Pfarrer kennt ihn."
Dann führt die deutsche Herkunft allerdings auf eine falsche Fährte. Diese Ungewissheit findet Christopher Ecker vollkommen überzeugend: "Ein literarischer Text versucht ja immer, Wirklichkeit zu spiegeln und in der sogenannten Wirklichkeit gibt es ja auch viele Dinge, die sich uns oder unseren Erklärungsversuchen entziehen."
Unsere eigene Identität eben! Einen mystischen Schlitz, der sich wie eine überdimensionierte Vagina in den Holzdielen des Hotelzimmers öffnet, gibt es in Wirklichkeit aber nicht!? Der Autor protestiert gegen die einfache Auslegung: "Die gibt es in meinem Buch auch nicht. Nein. Auf gar keinen Fall. Das ist eine Interpretation - aber es wird ja eindeutig nur als eine Öffnung beschrieben, die irgendetwas miteinander verbindet."
Ein geheimnisvoller Durchgang
Eine organisch anmutende Öffnung, deren Beschreibung allerdings Assoziationen weckt. Irreführend? "Nein, nicht Irrführung, mich interessiert dabei der Durchgang. Es gibt so eine Art Portal."
Durch das der Ich-Erzähler am Ende mit den rätselhaften Worten "Und so kam ich zu euch" verschwindet. Nein, nicht zu unbestimmten mysteriösen Anderen: "Zu uns. Er kommt zu uns. Und das lässt die Frage natürlich entstehen, wenn er jetzt zu uns kommt durch dieses Portal, wo war er vorher?"
Oder wo sind wir? Wenn der literarische Held im Buch war, wäre das geheimnisvolle Portal ein Durchgang in die sogenannte Realität? Ecker lacht: "Das Ganze ist ja ein ganz einfaches Mysterienspiel letztendlich, wo die Grenzen von Diesseits und Jenseits so ineinander verschmolzen sind. Deshalb passte das irgendwie so gut auch in die archaische Landschaft. Es ist letztendlich keine realistische Bretagne, es ist eher so eine mythische Bretagne."
Ein französischer Ort am Atlantik, den Christopher Ecker in einer faszinierend klaren Sprache und mit unglaublich sauber gefrästen Sätzen beschreibt. Jedes Bild stimmt, jedes Detail greift, ohne auch nur einen Moment Klischee zu sein. Die Konstellation erinnert natürlich an Kafka. Der Fremde, die Dorfbewohner, man weiß über ihn Bescheid, das Warten auf Instruktionen, die nie kommen werden. Ecker ist als Autor aber unbedingt originell und das Surreale nicht kafkaesk: "Nein, diese Kafka-Sache ist immer sehr problematisch, immer wenn es ein bisschen fantastisch wird, dann kommt Kafka."
Realistische Wiedererkennungseffekte
Und wenn es um gespaltene, vervielfachte und gespiegelte Identität geht, dann kommt die Romantik. Nicht der billige Schauerroman. Doch phantastische Figuren wie der Mann mit der Metallhand, der auf einen bretonischen Heiligen anspielt? "Da gibt es keine Erklärung, das ist einfach die Begegnung mit dem absolut Fremden. Mehr kann ich da jetzt nicht erklären zu. Vielleicht will ich es auch nicht. Letztendlich ist das Buch durchzogen von Doppelgängermotiven, wir haben einen Holländer, der mit ihm sehr verwandt ist, vom Aussehen und vom Gestus her."
Und ganz realistische Wiedererkennungseffekte. Wie die winzigen roten Käfer auf Mauern, die ausgestorben erscheinen, weil man sie nur als Kind gesehen hat. Dabei ist nur das Kind nicht mehr da: "Ich glaube, man sitzt nicht mehr so auf Mäuerchen. Aber das ist für mich so eine zentrale Metapher über das Entschwinden der Kindheit, dass da eine Welt einem fremd wird - eine Welt, die mit Dingen bevölkert ist, die man gar nicht mehr wahrnimmt heutzutage."
(Andrea Ring)
Die letzte Kränkung
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Mitteldeutscher Verlag
- Bestellnummer:
- 978-3-95462-2405
- Preis:
- 14,95 €