"Die leeren Schränke": Annie Ernaux' Debütroman erscheint auf Deutsch
Vor einem Jahr hat Annie Ernaux den Literaturnobelpreis gewonnen. Erstmals in deutscher Sprache ist das vor 50 Jahren geschriebene Debüt der französischen Schriftstellerin erschienen.
Unverschämt groß war ihr Glück. Gewaltig musste darum ihr Unglück werden. Jetzt blickt die junge Frau, Denise Lesur, auf das, was sie "die Katastrophe" nennt, und versucht, sich Rechenschaft abzulegen.
Das krepierte Leben in mir, in meinem Bauch. Wann, wie. Ich erzähle meine Geschichte. Ich kapiere es immer noch nicht. Leseprobe
Der "üble Geruch der Unterschicht"
Die 60er-Jahre haben gerade begonnen: Frankreich, verstrickt in seine Kolonialkriege, hat wieder einmal General de Gaulle als Retter an die Macht gerufen und ist ansonsten tief gespalten in soziale Klassen, die nichts miteinander verbindet, oder wenn, dann allenfalls die Verachtung, mit der die Angehörigen der einzelnen Schichten auf die jeweils ganz anderen blicken. Denise, die Ich-Erzählerin, die selbst meint, von ganz unten, aus verachtungswürdigsten Kreisen zu kommen, ist ungewollt schwanger geworden und hat heimlich und illegal eine Abtreibung vollzogen. Was das für sie bedeutet, wie darauf ihre Umwelt reagiert, darum geht es hier, in diesem frühen Werk, noch nicht. Das würde Annie Ernaux erst fast drei Jahrzehnte später - und viel weniger fiktionalisiert - in ihrem Buch "Das Ereignis" literarisch aufbereiten. In ihrem Debüt steht immerzu die Frage im Raum: Wie konnte das passieren, woher kam denn bloß die Angst nach einer doch so glücklichen Kindheit, in der Denise noch hatte machen können, was sie wollte? Ihre Eltern, Besitzer einer Kneipe und eines Kramladens, hatten einfach keine Zeit, ihr so etwas wie "Erziehung" angedeihen zu lassen.
Ich kenne nur den Überfluss, alles, was man essen kann, wird lose oder verpackt auf Regalen und in Kisten dargeboten, ich kann alles anfassen, aufreißen, anknabbern, mich in der Kurzwaren-und-Parfüm-Ecke von Gerüchen überwältigen lassen. Ich habe als Kind nie Kaufladen gespielt, ich musste mir keine imaginären Waren ausdenken, alles war frei zugänglich, umsonst, in Reichweite meiner Finger und meines Mundes. Hier herrschten Exzess, Abwechslung, Genuss. Leseprobe
Das ist das Glück. Das Unglück kommt durch die Schule, den Eintritt in eine andere Welt: Die Lehrerinnen an der katholischen Privatschule und die Mitschülerinnen aus bourgeoisem Hause machen dem Mädchen schnell klar, dass ihm der üble Geruch der Unterschicht anhaftet.
Eine Tatsache, ich muss die bittere Pille schlucken. Meine Eltern mochten zwar etwas Besseres sein als ihre Kundschaft. Trotzdem waren sie nur Krämer, Besitzer einer Nachbarschaftskneipe, Kleinverdiener, Jammergestalten. Ich will es nicht sehen, will es nicht denken. Ich bin nicht nur ein Trampel, verdorben, mit schmutzigen Geheimnissen, während meine Klassenkameradinnen leichtfüßig und frei sind. Nein, ich verachte auch noch meine Eltern. Niemand denkt schlecht über Vater und Mutter. Nur ich. Das Chanson, das im Radio schluchzte: "Ich habe niemanden getötet, habe nichts geklaut, aber ich habe meiner Mutter nicht geglaubt…", lief allein für mich. Ich werde noch böse enden. Leseprobe
"Die leeren Schränke": Ein unendlich trauriges Buch
Die junge, etwas über 30-jährige Annie Ernaux hat noch nicht ganz zu ihrer späteren Lakonie gefunden, verliert sich immer wieder in assoziativen Räuschen, kreist extrem redundant, aber dadurch auch sehr eindringlich um ihr großes Thema: die Verwurzelung in der durch Geburt bestimmten Klasse, eine Verwurzelung, die nie ganz zu kappen sein wird. Nicht einmal Bildung, nicht einmal Bücher holen sie da raus.
Beim Lesen, vor allem nach dem Lesen bleibt ein Unbehagen, das weit über diesen einzelnen Text hinausgeht. Mit Blick auf die vielen, thematisch nahezu identischen Bücher, die sie diesem Debüt folgen ließ, fragt man sich: Wenn Annie Ernaux aus dem Gefühl der Unwürdigkeit ein ganzes Werk bestreitet, gibt sie dann diesem Minderwertigkeitskomplex nicht allein dadurch erst Dauer? Darüber wird noch eine Weile zu grübeln sein, ausgehend von diesem im Einzelnen faszinierenden, unendlich traurigen Buch.
Die leeren Schränke
- Seitenzahl:
- 220 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Sonja Finck
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-22549-3
- Preis:
- 22 €