"Die Postkarte": Anne Berest zeichnet die Geschichte ihrer jüdischen Familie nach
Anne Berests Buch "Die Postkarte" lebt von der Unmittelbarkeit und der direkten, fast kriminalistischen Erforschung und Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Familiengeschichte.
Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen. Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die vier Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste. Ephraïm Emma Noémie Jacques. Leseprobe
Die Karte ist nicht unterschrieben, die Namen hingegen sind bekannt: Es sind die Vornamen der Großeltern von Berests Mutter sowie von deren Onkel und Tante. "Meine Mutter hat sie nicht gekannt, weil sie 1942 in Auschwitz gestorben sind", sagt die Autorin. "1942 sind sie gestorben und dann taucht 2003 im Briefkasten meiner Eltern diese Postkarte auf. Wir haben sie in eine Schublade gesteckt und nie wieder davon gesprochen."
Doch Anne Berest lässt diese rätselhafte Karte nicht los. Als Jahre später Mitschüler ihrer eigenen Tochter erklären: "Juden mögen wir nicht besonders", sucht sie das Gespräch mit ihrer Mutter und beginnt intensiv zu recherchieren: Sie engagiert sogar einen Detektiv.
Was bedeutet es "Jüdin" zu sein?
Geschickt verbindet die Autorin in dem Roman beide Ebenen, die historische und die gegenwärtige. Sie erzählt zum einen, in weiten Teilen gestützt auf Protokolle und Berichte ihrer Mutter, die Familiengeschichte, zum anderen von ihren eigenen Erlebnissen und der Auseinandersetzung mit der Frage, was es eigentlich für sie und ihre Tochter bedeutet "Jüdin" zu sein. Urgroßvater Ephraïm Rabinovitch brach früh mit der Religion. Er verließ Russland zusammen mit seiner Frau Emma und der ersten Tochter Myriam 1919; Juden waren hier nach der Revolution Verfolgungen ausgesetzt. Die Familie geht zunächst nach Riga, dann nach Palästina und landet 1929 schließlich, inzwischen fünfköpfig, in Paris.
Im September 1931 starten die Mädchen in den unteren Klassen des Lycée Fénelon ins neue Schuljahr. Myriam ist zwölf, Noémie acht. Auf ihrem Anmeldeformular steht: Palästinenserinnen litauischer Herkunft, ohne Staatsangehörigkeit. Leseprobe
Auf dieses Lycée werden später auch Anne Berest und ihre Tochter gehen, ohne zu wissen, dass sie damit einer Tradition folgen. Nach der Eroberung durch die Deutschen verlässt die Familie Rabinovitch Paris und flieht aufs Land. Ohne Erfolg. Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques werden deportiert, nur Myriam kann sich auf abenteuerliche Weise im Süden Frankreichs in Sicherheit bringen. Zu lange und zu oft hatte Ephraïm alle Warnungen in den Wind geschlagen, fühlte er sich doch als Franzose.
"Die Postkarte": Erschütternd und bewegend
Wie Anne Berest in ihrem opulenten Buch minutiös die einzelnen Etappen nachzeichnet, Gespräche einstreut, die sie mit ihrer Mutter geführt hat, erzählt, wie die beiden schließlich das letzte Haus der Familie Rabinovitch aufsuchen und bei den Nachbarn den Flügel von Emma entdecken, erschüttert und bewegt.
Im Wohnzimmer sahen wir es sofort. Das Klavier. Ein wundervoller Flügel aus Palisander. Er war zu einem Dekorationsgegenstand umfunktioniert worden, mit ein paar auf Spitzendeckchen drapierten Porzellanfiguren. Monsieur Fauchère trat ins Zimmer. "Sie haben ein schönes Klavier, es scheint sehr alt zu sein", sagte ich, wobei ich nur mühsam verbergen konnte, wie aufgewühlt ich war. "Ist der Flügel ein Familienerbstück?" fragte meine Mutter. "Ja, ja", sagte er verlegen. Leseprobe
Anne Berests Roman ist spannend bis zum Schluss
"Die Postkarte" ist eine Mischung aus Roman und fast journalistischer Erzählung. Das Buch lebt von der Unmittelbarkeit und der direkten, fast kriminalistischen Erforschung und Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Familiengeschichte. Sie wird Teil ihrer Gegenwart - einer Gegenwart, in der es auch in Frankreich immer noch Antisemitismus gibt. Lange ist dort über die Kollaboration vieler Franzosen mit den Deutschen geschwiegen worden. Das hat sich geändert, doch so ist darüber vermutlich bisher nur selten geschrieben worden. Dazu kommt der beeindruckende Familienstammbaum. Anne Berests Großvater war ein Sohn des Malers und Schriftstellers Francis Picabia. Ein bisschen Bohème-Leben gibt es also auch.
Das Geheimnis um die Herkunft der geheimnisvollen Postkarte wird übrigens ebenfalls gelöst. Ganz am Ende. So hält der Spannungsbogen bis zum Schluss.
Die Postkarte
- Seitenzahl:
- 544 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
- Verlag:
- Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-8270-1464-1
- Preis:
- 28 €