"Die Glühbirnendiebe": Von Geistern und Göttern im Plattenbau
Wenn der polnische Autor Tomasz Różycki bisher zu Lesungen nach Deutschland eingeladen wurde, dann eher wegen seiner Lyrik. Das könnte sich mit dem neuen Buch "Die Glühbirnendiebe" ändern.
Was sein Vater von ihm verlangt, ist für Tadeusz eine gruselige Mutprobe. Die Familie besitzt keine Kaffeemühle, deshalb soll er die Kaffeebohnen vom Nachbarn Stefan mahlen lassen. Stefan ist im ganzen Haus geschätzt, weil er einfach alles hat und kann. Über 1.000 Menschen wohnen hier in diesem riesigen Plattenbau. Der Weg zu Stefan, von einem Gebäudeteil zum anderen, führt den vielleicht neunjährigen Tadeusz über einen unheimlichen Dachboden.
Der rissige Zementfußboden, die ungestrichenen rissigen Wände, die trüben, an Drähten baumelnden verkohlten Glühbirnen und die eingeschlagenen Fenster, durch die meist der Wind blies, machten ihn zu einem Meisterwerk der rohen Schönheit des Spätkommunismus. Leseprobe
Eine Nachbarin hatte am Vortag etwas von einer bevorstehenden Kaffee-Lieferung gehört. Tadeusz stellte sich sofort in die Schlange vor dem Supermarkt. Erfolgreich, 200 Gramm Kaffee, rechtzeitig zum Namenstag des Vaters. Wenn er nur nicht über den Dachboden gehen müsste. Dort verstecken sich Geister und Götter, die in Nachbarn hineinkriechen und Tadeusz überfallen wollen.
Eine Kindheit im polnischen Opole
Wir sind in den späten 1980er-Jahren; das Ende der Volksrepublik Polen zeichnet sich ab. Tadeusz' Vater und sein Freund Stefan engagieren sich als Metallarbeiter in der Gewerkschaft Solidarność. Sie sind schon mal festgenommen worden, und Tadeusz hat Angst, dass sein Vater beim nächsten Mal die Pistole benutzt, die er versteckt hat. Viele Gefahren, und dann klafft auf dem Dachboden auch noch ein Riss.
Wie weit konnten sich die beiden Hälften voneinander entfernen? Nach meiner festen Überzeugung: sehr weit. Mein Teil konnte weit nach Osten wandern, bis in die Steppe. Der westliche Teil konnte eines Tages die Oder überqueren und sich im anderen Teil Europas wiederfinden. Leseprobe
Der Roman wird aus der Perspektive des erwachsenen Tadeusz erzählt. Er erinnert sich an die Jahre zwischen Vorschulalter und Pubertät. Das erlaubt einerseits einen kindlichen Blick auf den Po der Nachbarin, die sich beim Haare-Waschen über die Badewanne beugt, andererseits den erwachsen sarkastischen Ton, der die maroden Gesellschaftsstrukturen offenlegt. Wer mit polnischer Nachkriegsgeschichte vertraut ist oder auch nur mit prominenten Namen, hat eindeutig mehr von dieser Geschichte. Die trinkfreudigen Nachbarn zum Beispiel heißen wie polnische Adelsgeschlechter. Wer die nicht kennt, versteht gar nicht, wie sie verspottet werden.
Unerwartetes Ende entschädigt für manche Durststrecke
Tomasz Różycki kann herrlich satirisch überhöhen. Manche Szene im angekokelten, versifften Fahrstuhl könnte in jedem Plattenbau spielen, egal wann und wo. Auch die kindliche Angst vor Gespenstern ist universell. Sie sitzen Tadeusz im Nacken, als er schließlich mit dem gemahlenen Kaffee über den Korridor rennt.
Atemlos und mit zitternden Händen tastete ich nach dem Lichtschalter (…) und ich sah, dass niemand hinter mir auf der Treppe war, absolut niemand. Hinter mir auf der Treppe klaffte die Leere. Die Leere war (…) ganz nah. Leseprobe
So nah wie die Kaffeedose in seiner Hand. Leider hatte er den Deckel vergessen.
Der Roman endet mit einem spektakulären Sprung vom Balkon und einer unerwarteten sagenhaften Liebeserklärung - sie entschädigt für manche Durststrecke.
Die Glühbirnendiebe
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
- Verlag:
- Edition Fototapeta
- Bestellnummer:
- 978-3-949262-45-6
- Preis:
- 25 €