Buchcover: Didier Eribon - Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben © Suhrkamp Verlag
Buchcover: Didier Eribon - Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben © Suhrkamp Verlag
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AUDIO: Neue Bücher: "Eine Arbeiterin. Leben, Alter, Sterben" von Didier Eribon (4 Min)

Didier Eribons "Eine Arbeiterin": Das harte Leben einer Mutter

Stand: 11.03.2024 06:00 Uhr

Nach dem Tod des gehassten Vaters kann sich Didier Eribon wieder seiner Mutter annähern. Der französische Autor erzählt in seinem Buch "Eine Arbeiterin" von einer Frau, die immer nur geschuftet hat.

von Alexander Solloch

Wo komme ich her? Wie markiert mich meine soziale Herkunft, wie gehe ich mit meiner Herkunftsscham um? Was passiert, wenn ich "Verrat" an meiner Klasse übe, indem ich aufsteige in eine "höhere" Schicht? Das sind wesentliche Fragen der Gegenwartsliteratur - nicht der deutschsprachigen, hierzulande wird der Begriff "Klasse" mit sehr spitzen Fingern angefasst. In Frankreich hingegen geht es immer um diese Fragen, in allen wichtigen Werken von Nicolas Mathieu, Annie Ernaux, Olivier Adam, Édouard Louis und Didier Eribon. Dessen Buch "Rückkehr nach Reims", eine Art Selbsterforschung, war ein gewaltiger Erfolg - nun setzt der Soziologe diese Studie gewissermaßen fort mit einem Buch über seine Mutter: "Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben".

Eribons Mutter und ihre Rennfahrer-Träumerei

So oft im Morgengrauen auf den Beinen, so viele Wäscheberge, so viele Einkäufe, so viele gekochte Mahlzeiten, so viele Lebens- und Überlebensstrategien, so viel erlittene Scham … Leseprobe

Worte des Schriftstellers Patrick Chamoiseau, die, sagt Didier Eribon, auch er selbst über seine Mutter hätte schreiben können:

(…) so viele flüchtige Freuden, so viel Scheitern und so viele Erfolge (…) die im Lärm der Tage nie gefeiert worden sind! Wer wird sich an all das erinnern? Leseprobe

Ich erinnere mich, sagt Eribon, und ich werde erinnern, damit etwas bleibt von diesem langen, schwierigen, skandalös harten Leben - dem Leben einer Frau, die immer nur geschuftet hat: als Dienstmädchen, Putzfrau und Fabrikarbeiterin. Nach dem Tod des gehassten Vaters kann sich Didier Eribon wieder seiner Mutter annähern. Sie ist die Einzige in der Familie, die sich mit seinem "Klassenverrat" - dem Übertritt ins akademische Milieu, seiner Intellektualität, seiner Homosexualität - halbwegs arrangieren kann. Mutterliebe. Und wohl auch, alles in allem, dem heftigen Drang, sich abzugrenzen, zum Trotz: Sohnesliebe. Wenn sie sich nichts zu sagen haben, können sie immer noch gemeinsam fernsehen.

Meine Mutter hatte eine Schwäche für Formel 1 und konnte den über die Rennstrecke rasenden Autos stundenlang zusehen. Verwundert fragte ich: "Interessiert dich das wirklich so sehr?" Darauf sie: "Ja! Ich wäre gern Rennfahrerin geworden." Leseprobe

Ein Traum, der an den tausend Begrenzungen der Realität schmerzhaft zerschellt. Ohne Geld, ohne formale Bildung, ohne akzeptablen familiären Hintergrund war der Mutter von Anfang an nichts als Plackerei vorherbestimmt. Nie gönnt sie sich etwas außer dieser kleinen Rennfahrer-Träumerei.

Gestorben an Verlassenheit

Sie ist 87, als ihre - ansonsten untereinander verfeindeten - Söhne sie gemeinsam im Pflegeheim unterbringen. Sohn Didier versucht, sie zu besänftigen: "Du wirst sehen, es wird Dir gut ergehen", sagt er, unbewusst eine Schnulze von Jean Ferrat zitierend.

Später schämt er sich dafür, denn nichts wird gut, erinnert sich Eribon bei der Buchvorstellung in Paris: "Sie hat sehr schnell abgebaut, hat mir nachts auf den Anrufbeantworter gesprochen, es gehe ihr schlecht, man misshandele sie, es sei ihr verboten zu duschen. Ich habe dann die Ärztin im Pflegeheim angerufen, und die hat gesagt: 'Nein, das Duschen ist ihr nicht verboten; aber um sie aufzurichten und ins Badezimmer zu bringen, brauche ich zwei Pflegekräfte! Mir fehlt das Personal, deshalb geht das nur einmal pro Woche.' Als die mir das sagte, wollte ich laut aufschreien: Das kann doch gar nicht sein!"

Sieben Wochen später ist die Mutter tot, gestorben an Verlassenheit in der fürchterlichen Pflege-Einöde, in der die Alten keine Stimme mehr haben.

Jedes Leben verdient, erzählt zu werden

Dieses Buch ist Eribons Aufschrei: berührend und aufrüttelnd vor allem dann, wenn er es schafft, sich vom Soziologenjargon zu lösen. Dann wird deutlich: Jedes Leben verdient, erzählt zu werden; jedes Leben und sein darin verborgener unerfüllter Traum.

Sie fand Zuflucht im frenetischen Tanz der Rennwagen, den sie voller Inbrunst verfolgte. Reglos in ihrem Sessel, mit der Fernbedienung in der Hand, saß sie am Steuer eines Rennautos. Leseprobe

Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben

von Didier Eribon
Seitenzahl:
272 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Verlag:
Suhrkamp
Bestellnummer:
978-3-518-43175-7
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 11.03.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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