"Der Morgenstern" von Karl Ove Knausgård: Faszinierend entrückt
In "Der Morgenstern" von Karl Ove Knausgård sehnen sich die Figuren nach einem Neuanfang, der sich über eine Morgenstern-Erscheinung ankündigt. Tobias Wenzel hat mit dem Schriftsteller über den Roman gesprochen.
Ich ging näher heran und sah, dass es Krebse waren. Hunderte Krebse.
Sie gaben tickende Laute von sich.
Ach du Scheiße.
Was war denn das?
Leseprobe
Der Literaturprofessor Arne beobachtet, dass Tiere sich in Massen versammeln. So wie man das aus Horrorfilmen kennt. Gelenkt werden die Tiere, wie es scheint, von einer seltsamen Lichterscheinung am Himmel. Die wiederum entdecken Arne und acht weitere norwegische Ich-Erzähler. Ist das ein Morgenstern? Oder etwas völlig Unbekanntes, gar Bedrohliches? In seinem neuen, außergewöhnlichen Roman "Der Morgenstern" bricht der Romantiker Karl Ove Knausgård ganz bewusst mit rationalen Erwartungen: "Fast alles, was wir sehen, sind und tun, verstehen wir im Grunde nicht", sagt Knausgård. "Aber wir können nicht mit dieser Ungewissheit leben. Deshalb haben wir Theorien zu allem. Diese Angst vor dem Unbekannten prägt mein Buch sehr."
Wenn Tote nicht wirklich tot sind
Das heißt zum Beispiel: Tote scheinen in diesen zwei Sommertagen der Romanhandlung nicht wirklich tot zu sein, etwa der Körper eines Mannes, dem Organe zur Organspende entnommen werden. Das Buch, von Paul Berf tadellos übersetzt, ist voll von biblischen Verweisen. Der Morgenstern kann in der Bibel sowohl für den Teufel als auch für Jesus stehen. Und so ist im Roman nie ganz klar, ob das Licht am Himmel die Apokalypse oder vielleicht doch etwas Gutes verheißt. Knausgård hält die Spannung, indem er gekonnt mit solchen Doppeldeutigkeiten spielt: "In meiner Kindheit habe ich zwar viel über biblische Geschichten erfahren, aber erst jetzt bei der erneuten Bibel-Lektüre habe ich erkannt, dass das jeweilige Gegenteil oft gleichzeitig da ist", erzählt der Schriftsteller. "Außerdem gibt es diese agnostische Theorie, derzufolge der biblische Gott in Wirklichkeit der Teufel ist. So etwas mag ich: wenn alles auf den Kopf gestellt wird."
"Der Morgenstern": Auftakt zu einer mindestens fünfbändigen Reihe
Die Erzählstränge der meisten Ich-Erzähler sind, wenn überhaupt, nur locker miteinander verbunden. Die Figuren reichen von einer Pfarrerin, die Nächstenliebe predigt, aber im Privaten lieber noch mal von vorne anfangen würde, über einen Mann, der an seiner bipolaren Frau verzweifelt, bis zu einem Journalisten, der zu Morden in der Satanisten-Szene recherchiert. Vieles bleibt offen. Denn dieser Roman bildet nur den Auftakt zu einer mindestens fünfbändigen Reihe.
Obwohl der Autor seine neun Ich-Erzähler, darunter fünf Frauen, im immer selben Knausgård-Sound sprechen lässt, nimmt man ihm erstaunlicherweise jede einzelne Figur ab. Aus dem konkreten Alltagsleben seiner Figuren entwickelt der Autor einmal mehr souverän die großen existentiellen Fragen: Was ist der Sinn unseres Daseins? Existiert Gott? Und gibt es ein Leben nach dem Tod? Die meisten Romanfiguren sehnen sich nach einem Neuanfang, der sich über die Morgenstern-Erscheinung tatsächlich ankündigt. Fragt sich, ob Karl Ove Knausgård auch die Sehnsucht verspürt, für etwas ganz Neues dem Alltag den Rücken zu kehren: "Vor sehr vielen Jahren habe ich das wohl getan. Ich habe mich damals nach Einfachheit gesehnt", sagt Knausgård. "Jetzt denke ich: So ist halt das Leben. Irgendwie mit ihm klarkommen - das macht das Leben aus. Wie man den Alltag wertschätzt und in ihm Größe entdeckt, darüber schreibe ich jetzt, anstatt zu versuchen, dem Alltag zu entkommen." Karl Ove Knausgård ist mit "Der Morgenstern" ein zugleich treffend realistischer und faszinierend entrückter Roman geglückt.
Der Morgenstern
- Seitenzahl:
- 896 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Norwegischen von Paul Berf
- Verlag:
- Luchterhand
- Veröffentlichungsdatum:
- 11. April 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87516-3
- Preis:
- 28 Euro €