"Der Kaninchenstall": Ein Porträt der amerikanischen Gesellschaft
Tess Guntys rasant geschriebener Roman "Der Kaninchenstall" ist düster und doch voller unverwüstlicher Hoffnung. Die Bewohner eines Hochhauses repräsentieren den Zustand der amerikanischen Bevölkerung.
Die 30-jährige Tess Gunty sieht aus wie ein Filmstar, im elegant geschnittenen, schmalen Abendkleid, mit ihrem langen blonden Haar, ihren ebenmäßigen Gesichtszügen und makellosen Zähnen. In Interviews wird sie von erstaunten Literaturkritikern gefragt, woher sie denn ihre Stoffe nehme. Sie antwortet charmant und gelassen, sie habe eben viel gelesen, viel beobachtet und erfahren. Wenn sie dazu Shakespeares Komödien und Tragödien erwähnt, ahnt man ein stabiles Selbstbewusstsein, das ganz natürlich, kein bisschen eingebildet daherkommt. Das Rätsel bleibt, aus welchen Tiefen sie dieses Feuerwerk des Erzählens geschöpft hat. In ihrem Roman "Der Kaninchenstall" erzählt sie von Menschen in einem Mietshaus. In einem der Apartments liegt eine sterbende alte Frau, die sich nach ihrem Sohn sehnt, der nicht kommt:
Beim Warten durchsuche ich den Text meines Lebens nach Nennung meines Sohnes, nach Details, die seine Abwesenheit rechtfertigen. Oder vielleicht suche ich nach einem Widerspruch, einem Gegenargument, dem Beweis, dass ich am Ende doch keine schlechte Mutter war. Keine Treffer. Leseprobe
Eine Gesellschaft am Abgrund
Es tauchen in diesem Roman alte und junge Menschen auf, die es unfassbar schwer haben im Leben. Ein Neugeborenes, das gleich nach der Geburt einen schmerzhaften Drogenentzug erleidet und dann in Pflegefamilien aufwächst, aber auch Kinder, die behütet mit Holzspielzeug aufwachsen. Das Mädchen Tiffany gehört zu den weniger Begünstigten. Sie wird von einem Klavierlehrer sehr gefördert. Als er ihr sein eigenes Zuhause zeigt, den Reichtum seiner Familie, eine großzügige Villa mit Gemälden, Parkett, edler Wäsche, gerät sie aus dem Tritt. Er verführt sie und zerstört sie damit. Das Mädchen wird sich von seinem Verrat an ihr nicht mehr erholen. In anderen Passagen dieses kaum nacherzählbaren Romans geht es um die Hoffnung, die gleichwohl einer Gesellschaft bleibt, die am Abgrund steht.
Sie zwingt sich, ihre schönsten Erinnerungen wachzurufen. Die Fahrt im Nachtbus, als der Fahrer mit seinem Lagerfeuer-Bariton durch den Lautsprecher philosophierte, welches Glück er mit seinen Enkelkindern hatte, die sein Leben als sinnvoll genutzte Zeit ansehen. (…) Joan verspürte eine so überwältigende Zärtlichkeit für ihre Spezies, dass sie fürchtete, sie würde sich opfern, um sie zu retten (…) Joan verstand, dass menschliches Mitgefühl kein Pappenstiel war. Es war der letzte Anker. Leseprobe
"Der Kaninchenstall": Ein Mosaik aus hunderten Mini-Romanen
Man sollte sich dem Erzählreigen von Tess Gunty einfach anvertrauen, es ist keine durchgängig erzählte Romanhandlung, sondern setzt sich mosaikartig aus hunderten Mini-Romanen zu einem Bild zusammen, an dessen Ende der Tod einer jungen Frau steht, und zwar so wie ihn Hieronymus Bosch gemalt hat: als hellen Tunnel zum Licht. Bis dahin quillt dieser Text über von tragischen, urkomischen, brutalen und liebevollen Geschichten.
Für "Der Kaninchenstall" wurde Tess Gunty mit dem renommierten National Book Award ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede nennt die amerikanische Autorin die Literatur, die Bücher, als wichtigste, vielleicht letzte Mittel, um die guten Eigenschaften der Menschen zu bewahren.
Der Kaninchenstall
- Seitenzahl:
- 416 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-00300-0
- Preis:
- 25 €