"Das Wesen des Lebens": Faszinierende Geschichte einer Seekuh
Im Naturkundemuseum Braunschweig ist das Skelett einer Seekuh ausgestellt, die Iida Turpeinen zu ihrem ersten Roman inspiriert hat. Die finnische Autorin erzählt lebendig zwischen Fakten und Fiktion.
1751 auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Kapitän Vitus Behring soll einen Seeweg nach Amerika finden. Zwei Schiffe, hundert Mann Besatzung, Proviant für viele Monate. Mit an Bord ein deutscher Naturforscher namens Steller, ein Besserwisser. Die Offiziere hören nicht auf seine Berechnungen. Ein Schiff verschwindet im Nebel, das zweite strandet vor einer unbewohnten Insel. Die Männer hungern, viele sterben an Skorbut. Nur Steller ist nicht zu erschüttern, er dokumentiert Flora und Fauna und ist wie elektrisiert, als er in flachem Gewässer ein riesiges Säugetier entdeckt. Zwar hat Christoph Kolumbus mal die Manatis, die Meerjungfrauen erwähnt, aber in jüngerer Zeit hat kein Forscher sie beschrieben. Meerjungfrauen?
Grund sind womöglich die Brüste der Seekühe, denn im Gegensatz zu anderen Meeressäugern befinden sich ihre Zitzen auf Brusthöhe unter den Fordergliedmaßen (…) Der runde, wuchtige Körper und der winzige Kopf, nein es besteht kein Zweifel daran, vor ihnen schwimmt ein riesiger Manati, eine unbekannte Seekuh aus dem Norden. Leseprobe
Die Expedition ist dramatisch gescheitert, nur Steller malt sich schon aus, wie er gefeiert wird: Die Seekuh wird seinen Namen tragen. Obwohl sie in Ufernähe gründelt, haben die Männer Mühe, sie zu jagen. Aber die Beute reicht. Das zarte Fleisch rettet die ausgezehrten Seeleute, sie schaffen schließlich den Weg zurück, aber Steller muss sein Ein und Alles da lassen, ein sieben Meter langes Skelett.
Das Verschwinden der Seekuh
Iida Turpeinen erzählt aufregend von dieser Expedition: von Sturm und Lebensgefahr, aber auch von der Leidenschaft, mit der Steller und seine Nachfolger Wissen sammeln. 100 Jahre später beschäftigt sich der Forscher von Nordmann in Helsinki mit der Seekuh, im Roman und in der Realität. Warum ist sie nirgends mehr auffindbar? Verschiedene Theorien konkurrieren. Junge Forscher werfen von Nordmann Kosmopolitismus vor, er vernachlässige die Erkenntnisse der nationalen finnischen Experten.
Er braucht unbedingt ein Skelett, um weitere Erkenntnisse über das Verschwinden der Seekuh zu gewinnen. Und er bekommt es aus Alaska. Die Ureinwohner wissen, wo sie suchen müssen: Da, wo Pelzjäger die Otter ausgerottet haben, konnten sich Seeigel ausbreiten und den Seekühen tonnenweise Algen wegfressen, sie sind verhungert. Auf dem Meeresboden liegen ihre Knochen.
Ein überfrachteter Roman, der trotzdem fesselt
Turpeinen erzählt von Frauen, die nur im Hintergrund wirken durften. Zum Beispiel die Zeichnerin Hilda Olson, bisher auf Spinnen spezialisiert.
Sie ist es gewohnt, das Kleine groß zu machen (…) aber bei diesem Tier braucht es kein Mikroskop, jetzt muss sie das Objekt so verkleinern, dass der Wirbel auf das Papier passt, und sie stellt Berechnungen an, sucht den richtigen Maßstab. Leseprobe
Turpeinen hat einen lebendigen Sprachstil gefunden, zwischen Fakten und Fiktion, aber sie überfrachtet ihren Roman: Forscherehrgeiz, Habgier, Artensterben, Ureinwohner - der Stoff hätte für zwei Bücher gereicht. Trotzdem fesselt die Lektüre. Diese Geschichte einer friedlichen unförmigen Seekuh bereichert und fasziniert.
Das Wesen des Lebens
- Seitenzahl:
- 320 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann
- Verlag:
- S. Fischer
- Bestellnummer:
- 978-3-10-397630-4
- Preis:
- 24 €