"Das Jahr ohne Sommer": Ein zarter, starker Roman
In ihrem vorherigen Roman "Wellenflug" hat Constanze Neumann die Herkunftsgeschichte ihrer Familie erzählt. In ihrem neuen autobiografisch geprägten Roman geht es nun um die Geschichte ihrer Kindheit: "Das Jahr ohne Sommer".
Constanze Neumann erzählt von einer schweren Traumatisierung einer ganzen Familie durch den Staat, durch das politische System der DDR. Ihre hochbegabten, jungen, hoffnungsvollen Eltern glaubten, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Republik zu verlassen. Ein fataler Irrtum. Einer der beteiligten Fluchthelfer war in Bedrängnis geraten und hatte sie offenbar verraten, um die eigene Haut zu retten. Die Flucht misslingt, beide Eltern kommen ins Gefängnis.
Kindheit voller Abschiede
Der Großvater holt das kleine Mädchen ab und die nächsten Jahre wird sie hauptsächlich von der Großmutter betreut, geliebt, großgezogen. Über den Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR in den 1970er-Jahren kommen die Eltern des Mädchens in den Westen. Es bedeutet einen weiteren schmerzhaften Abschied für das Kind. Sie muss die Großmutter verlassen und ihre Heimat. Das Kind zieht mit den Eltern nach Aachen. Sie erinnert sich, wie es war, wenn in der neuen Umgebung die Eltern am Abend ausgingen:
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, fiel ich aus beiden Welten, nichts war mehr übrig, es war alles leer und ich allein. Draußen wurde es dunkel, und ich lief durch alle Zimmer, um zu kontrollieren, ob die Dinge noch da waren: die Möbel, das Meissner Porzellan, das meine Eltern mit viel Mühe aus der DDR gerettet hatten, die Geige meiner Mutter, ihr Schmuck, ihre Unterwäsche und die Strumpfhosen. … Manchmal weinte ich, manchmal schlief ich ein, bevor meine Eltern zurückkamen … Leseprobe
Die Last der Gefangenschaft bleibt
Der Vater findet eine gute neue Stelle, aber die Mutter des Kindes ist durch die Zeit im Gefängnis körperlich und seelisch beschädigt. Eine sensible, schöne Frau, die danach nicht mehr so souverän mit ihrer Geige verzaubern kann wie früher.
Von Jahr zu Jahr wog die Last schwerer, die Last aller Möglichkeiten um den Preis der Flucht, den meine Eltern im Gefängnis bezahlt hatten. Meine Mutter bezahlte ihn immer noch, sie war nicht glücklich, auch wenn mein Vater dagegen anredete, ein Unglück, das es nicht geben durfte und das deshalb auch nicht da war.
Ohne Pathos und Selbstmitleid
Constanze Neumann erzählt diese Geschichte, die von Heimatverlust und tiefer Einsamkeit künstlerischer Persönlichkeiten handelt, ohne jedes Pathos, ohne auch nur den Anflug von Selbstmitleid.
Meine Großmütter und mein Großvater waren inzwischen verstorben, überhaupt war keiner mehr da, der sich an die zwei Jahre erinnerte, die ich bei meinen Großeltern verbracht hatte, an das Heim in Gera, in dem ich als Schmetterling verkleidet geweint hatte, an die Sommernachmittage im Garten oder die Wanderungen in Thüringen. Auch mein Vater starb, und mit ihm verschwanden die endlosen Gespräche über Leipziger Straßen, das Reiß-dich-zusammen, die Chopin-Etüde, die er auf seinem Flügel gespielt hatte. Immer noch stäubte ich Puderzucker auf zuckrigen Stollen und erzählte meiner Tochter, die nach seinem Tod zur Welt kam, wie gern ihr Opa Mohnkuchen und ungarische Salami gegessen hatte. Und wie lieb er sie gehabt hätte. Orte und Menschen, viel Arbeit, Lieben, die ins Nirgendwo führten - bis mein Herz nicht mehr mitmachte. Es kam aus dem Takt, es suchte sich einen eigenen, unregelmäßigen, und manchmal stand es still. Dann wurde ich ohnmächtig, und es wäre leicht gewesen, nicht zurückzukehren. Ich versuchte weiterzumachen, weil ich immer weitermachte…
Es sind berührende Liebeserklärungen im Text versteckt, an die Großmutter, den Vater und vor allem die Mutter, die tapfer versucht, sich aus dem Geflecht aus Scham und Schuldgefühlen zu befreien. "Das Jahr ohne Sommer" ist ein ebenso zarter wie starker Roman.
Das Jahr ohne Sommer
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Ullstein Verlag
- Bestellnummer:
- 978-3-550 2022 92
- Preis:
- 22 €