Buch-Cover: "Double Take" von Stefan Draschan © Hatje Cantz

Bildband "Double Take": Fotos, bei denen man zweimal hinsehen muss

Stand: 18.08.2024 06:00 Uhr

Bei einem Spaziergang durch die Stadt bleibt der Blick plötzlich irgendwo hängen, man sieht nochmal genauer hin. Genau auf diesem Prinzip basiert der Bildband "Double Take" des Fotografen Stefan Draschan.

von Severine Naeve

Ein alter Opel Corsa, in praller Sonne geparkt vor einem Geschäftshaus in Berlin Wedding. Knallrot, bis auf die linke hintere Tür - die ist türkis. Hat es mal einen Unfall gegeben? Musste die Tür ausgetauscht werden? Im Hintergrund sind Teile der Hausfront im gleichen Türkis gehalten - Nachkriegsarchitektur, poppig saniert. Auf dem Gehweg, zwischen Opel und Haus, eine Telefonbox in futuristischem Design, die in Rot und zufällig einem türkisen Blau gehalten ist. Links dahinter ein Café mit rotem Logo, rechts ein Handyreparaturshop mit rotem und, natürlich, türkisem Schriftzug. Durch das Auto hindurch sieht man zwei Männer sitzen - als säßen sie sich im Auto gegenüber - in rotem und blauem Hemd. Diese urbane Hässlichkeit, gepaart mit der Inszenierung einer ins Gesicht knallenden Farbharmonie - das kann doch kein Zufall sein!

Doch. Ein Zufall. Der Bildband "Double Take" zeigt Fotoserien des Künstlers Stefan Draschan - mit Motiven, die sich ihm in ihrer zufälligen Farb- und Formsymbiose quasi aufgedrängt haben. "Cars matching homes" - Autos, die zu Häusern passen - heißt eine der Serien in diesem kleinen, großartigen Bildband.

Bilder wie gemalt

"Eine mögliche Übersetzung für double take ist 'Spätzündung'. Ein technisches Phänomen aus der Welt der Verbrennungsmotoren. Erst auf den zweiten Blick zeigen sich Korrespondenzen zwischen Bauwerken und den vor ihnen geparkten Fahrzeugen - ästhetische Effekte, die an Camouflage erinnern." Leseprobe

Ein goldener Golf 3 geparkt vor einem sandfarbenen Gebäude, dessen Fenster den Autofenstern ähneln, dahinter ein Passant - in goldgelber Jacke. Der leere silbergraue Auflieger eines Autotransporters - die geriffelte Oberfläche setzt sich in der dahinterliegenden Fensterstruktur eines riesigen grauen Pariser Bürogebäudes fort. Wie gemalt erscheinen diese Bilder.

Mensch und Motiv verschmelzen zu einem neuen Kunstwerk

Stefan Draschan, Österreicher, Wahlberliner, ehemaliger Journalist, ist mit seinen ungewöhnlichen Motiven zunächst im Internet bekannt geworden. Inzwischen werden sie in Museen ausgestellt, in denen er ebenfalls viele Jahre auf Motivjagd war. Für seine Serie "People matching artworks" hat er, einem Tierfilmer gleich, Stunden um Stunden in Galerien auf der Lauer gelegen. Für diesen einen Moment, in dem Mensch und Motiv zu einem neuen Kunstwerk verschmelzen.

In der Berliner Nationalgalerie betrachtet ein alter Mann, gestützt auf seinen Stock, ein Bild der Künstlerin Alice Lex-Nerlinger. Darauf zu sehen: ein Soldat, der im Stacheldrahtzaun verheddert ist. Grau und düster, die Zaunpfähle schief und krumm. Der Betrachter davor in seltsam verkrümmter Haltung, in Grau und Schwarz gekleidet. Er scheint das Bild fortzusetzen - sein Stock die Verlängerung eines der Zaunpfähle zu sein, seine schiefe Körperhaltung fast synchron mit der des Soldaten.

Die aufgetürmte Frisur einer Frau vor einem Courbet-Gemälde im Musée d’Orsay in Paris geht fließend in die Schambehaarung der mit gespreizten Schenkeln liegenden Dame auf dem Bild über. Vor einem riesigen Tintoretto in Venedig ist Draschan ein Foto gelungen, das zu einem Suchbild für Kinder wird: "Wir haben in diesem Foto einen weißhaarigen Mann mit Bart versteckt", könnte der Titel sein.

Im Kapitel "Sleeping Beauties" hat Draschan Menschen fotografiert, die offensichtlich überwältigt vom Kraftakt der Kunstbetrachtung auf Museumsbänken eingeschlafen sind. Ein weiteres Kapitel ist wieder dem Titelthema gewidmet, dem "noch mal genau Hinsehen": Menschen mit Lupe, Fernglas, geneigten Köpfen, um dem betrachteten Gemälde noch näher zu kommen.

Stefan Draschans besonderes Beobachtungstalent

"Es ist schon mein Jagdrevier - es ist natürlich auch eine sehr unblutige Jagd", sagt Draschan. "Wenn ich etwas Spannendes sehe, reagiere ich drauf, verlangsame mein Tempo, passe mich in dem Sinne der Beute an. Aber ich beobachte auch. Das kommt schon alles aus der Beobachtung heraus." Die Trophäen, also die Ergebnisse von Stefan Draschans Beobachtungstalent, machen diesen Bildband zum großen Vergnügen.

Double Take

von Stefan Draschan
Seitenzahl:
128 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Hatje Cantz
Bestellnummer:
978-3-7757-5543-6
Preis:
18 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 18.08.2024 | 16:20 Uhr

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Fotografie

Bildbände

Abbildung aus "Double Take" © Stefan Draschan Foto: Stefan Draschan

Eindrücke aus dem Bildband: "Double Take"

Der Künstler Stefan Draschan hat Motive fotografiert, die sich ihm in ihrer zufälligen Farb- und Formsymbiose quasi aufgedrängt haben. Bildergalerie

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