"Avalon": Nell Zink blickt auf die amerikanische Klassengesellschaft
"Avalon" ist die Geschichte einer Heranwachsenden an der US-amerikanischen Ostküste, die ein "Leben in der Warteschleife" verbringt. Aber in dieser Geschichte ertönt am Ende eine Art Freizeichen.
Es ist kompliziert. Nell Zinks Hauptdarstellerin ist kompliziert. Oder sind es vielleicht doch nur die - sehr komplizierten - Lebensumstände, die Bran so schräg im Leben stehen lassen?
Ich habe Probleme, meine Kindheit in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Sie taucht nur in Fragmenten auf, wie ein entkernter und segmentierter Apfel. Setz ihn wieder zusammen, und das Innere verschwindet. Leseprobe
Der Apfel als Metapher für die eigene Vergangenheit? Das ist nun wieder einfach zu erklären, denn die Frucht ist titelgebend.
"Avalon" heißt "Ort mit Äpfeln", diesem gesunden Zeug, das auf Bäumen wächst. Wenn Du Äpfel richtig behandelst, bleiben sie das ganze Jahr frisch. Deshalb heißt das Wort Paradies "Garten", und deshalb wurde Artus nach Avalon gebracht, um seine Wunden zu heilen. Leseprobe
Als billige Arbeitskraft bei der Stieffamilie
Das mythische "Avalon" der Artussage taucht im Roman immer wieder auf. Zum Beispiel als Sehnsuchtsort an der kalifornischen Küste. In Brans apfelscheibenartigen Erinnerungen ist der zunächst noch so etwas wie ein Stück heile Welt. Denn 2005, beim Ausflug nach Avalon, ins "Touristenfallen-Kaff auf Santa Catalina Island", war das Leben der zehnjährigen Bran noch einigermaßen im Lot. Zwar war Brans leiblicher Vater da schon längst nach Australien abgehauen, aber wenigstens die Mutter noch anwesend. Dann verlässt auch sie die Tochter, geht als tibetische Nonne in ein Kloster. Bran bleibt zurück bei ihrem Noch-nicht-einmal-Stiefvater und seiner Familie, den Hendersons. Besser gesagt: in deren Betrieb, einer Baumschule.
Die Hendersons behielten mich gern. Ein zehnjähriges Stiefkind bedeutete ungefähr acht Jahre unbezahlte Arbeit und 20.000 Dollar Kindergeld, falls das Finanzamt mitspielte. Aus ihrer Sicht bot ihnen meine Mutter als finanziellen Ausgleich mich an. Leseprobe
Bran arbeitet hart und lebt prekär. Aber zusammen mit Schulfreunden ein Literaturmagazin herauszugeben, eröffnet ihr schließlich einen Blick in eine andere Welt, außerhalb des Liguster-Formschnitts, für den sie zuständig ist und der den Hendersons die Kunden bringt. Geld für einen Bibliotheksausweis hat sie trotzdem nicht.
"Avalon" Eine streckenweise etwas sperrige Lektüre
Es ist die harte Seite amerikanischer Realität, der Klassismus, die Nell Zink in "Avalon" beschreibt. Aus Sicht einer orientierungslosen jungen Frau, die gar nicht wüsste, wie das mit dem "richtigen Leben im falschen" funktionieren könnte. Ja, auch Adorno kommt vor. Der um einige Jahre ältere Peter, Student der Literaturwissenschaft, versorgt Bran mit Büchern und schickt ihr auch eine Ausgabe der "Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Und triggert damit bei ihr das Gefühl, es könne sich lohnen, das Baumschulendasein hinter sich zu lassen, es könnte auch für sie ein Avalon geben.
"Du musst Dich ernster nehmen", sagte er. "Dein Leben ist ein kostbares Geschenk. Wenn schon nicht für Dich, dann für mich (...)" Leseprobe
Dabei ist Peter verlobt. Was es genau ist, das ihn an Bran so fasziniert, wird nie deutlich. Und Andeutungen gehören zum Spiel, das Nell Zink mit ihren Lesern spielt. Durch sie wird die Lektüre streckenweise etwas sperrig. Auch sprachlich gibt die Autorin uns reichlich zu knabbern. Der Vater, der nie Kontakt zur Tochter gesucht hat, nie einen Brief an sie geschrieben hat, hat sich nicht einfach "rar gemacht". Vielmehr heißt es:
(...) er orientierte sein Benehmen an den Emigranten aus Segelschiffzeiten. Leseprobe
Ein "Leben in der Warteschleife"
Man muss also - um die Avalonmetapher zu bemühen - immer wieder in den sauren Apfel beißen. Das Kerngehäuse hat es aber in sich. Inklusive Verfolgungsjagden durch eine Rockerbande. "Avalon" ist die Geschichte einer Heranwachsenden an der US-amerikanischen Ostküste, die, so sagt es die Mutter eines Freundes zu Bran, ein "Leben in der Warteschleife" verbringt. Aber in dieser Geschichte ertönt am Ende eine Art Freizeichen. Eins, das diese unheroische Heldin mit etwas verbindet, das mindestens so fantastisch ist wie der mythische Ort Avalon.
Avalon
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00311-1
- Preis:
- 26 €