"Auf allen vieren": Ein Roman wie ein Striptease
In "Auf allen vieren" strandet eine halbberühmte Künstlerin mit einem jüngeren Mann in einem Motelzimmer. Miranda Julys Roman wirft einen Blick auf weibliches Begehren.
Eine einzige Abbildung in Miranda Julys neuem Buch zeigt unmissverständlich, worum es hier geht: Zu sehen ist eine medizinische Grafik der Hormonkurve von Mann und Frau im Laufe des Lebens. Die Testosteronlinie sinkt beim Mann mit zunehmendem Alter ganz entspannt. Das Östrogen der Frau hingegen fällt mit 45 Jahren aus großer Höhe sehr plötzlich rapide ab. Auf dieser Klippe befindet sich die Erzählerin von "Auf allen vieren", eine Künstlerin, die mit ihrem Musikproduzenten-Ehemann und dem nonbinären Kind ein doch recht eingehegtes Familienleben in L.A. führt. Ihre Freundin Jordi rät ihr zu einem Tapetenwechsel. Also bricht sie auf zu einem Roadtrip allein nach New York, der allerdings schon an der ersten Tankstelle endet. Da putzt nämlich ein junger Mann, Davey, ihre Windschutzscheibe.
Mit sicheren und gleichmäßigen langen Bewegungen zog er die Gummilippe über die Scheibe. Es war hypnotisch, so als würde man gebadet. Ich wurde ganz träge und fiel in eine Art Trance, und aus diesem Grund bemerkte ich auch erst spät, dass wir Blickkontakt hatten. Wie peinlich. Leseprobe
Versaute Intimitäten
Sie nimmt sich ein Motelzimmer und engagiert Daveys Frau, Raumausstatterin Claire, dieses Zimmer in ein Zimmer für sich allein zu verwandeln. Virginia Woolf lässt grüßen. Gemeinsam verlegen die zwei Fliesen im Bad und installieren die perfekten Gardinen. Nachmittags macht sie Spaziergänge mit Davey, und erst als er zufällig seine Brust entblößt, wird ihr klar, dass sie den Mann so heftig begehrt wie niemanden zuvor. Er ist der Crush ihres Lebens. Sie will Davey, Davey will sie, aber aus moralischen Skrupeln, versagen sie es sich, miteinander zu schlafen. Stattdessen genießen sie einander durch gemeinsames Tanzen und hochkreative versaute Intimitäten.
Ich sah zu, wie er ins Bad ging. "Ich denke gerade irgendetwas", dachte ich. "Was denke ich?"
Ich sprang auf, und bevor ich es richtig merkte, kniete ich hinter ihm, streckte den Arm aus und fing seine warme Pisse in meiner überlaufenden Hand auf. Er lachte überrascht auf, was wie ein Bellen klang, und wurde sofort wieder still - jetzt, wo er in meine Hand pinkelte, musste er sich voll darauf konzentrieren, nicht aufzuhören.
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Erkundungstour weiblicher Lust
Die Romanze mit Davey ist nur die Aufwärmphase für Miranda Julys sprengsatzartige Erkundungstour weiblicher Lust jenseits repräsentativer Jugendlichkeit. Die Großmutter der Erzählerin hat sich mit 45 Jahren aus dem Fenster gestürzt, nachdem sie kurz zuvor über graue Haare geklagt hatte. Herrscht in der Gesellschaft etwa ein großes Schweigen darüber, dass nach der Menopause den Frauen jegliche Lebenslust abhanden kommt?, fragt sich die Erzählerin, als sie die Grafik mit der abfallenden Hormonkurve im Internet findet. Nach ihrer Rückkehr weigert sie sich, ihr Leben wie gewöhnlich weiterzuführen. Sie interviewt ältere Frauen, erfindet ihre Ehe neu und erlaubt sich sexuelle Eskapaden. Gemeinsam mit ihrer lesbischen Freundin Jordi zertrümmert sie Mythen über Sex.
Wir betrachteten zusammen die Figur aus grünem Marmor, schwarz geädert und auf Hochglanz poliert. Es war eine Frau ohne Kopf, auf Händen und Knien. "Es heißt immer, Doggystyle wäre so verletzlich", sagte Jordi, "dabei ist es eigentlich die stabilste Position. Wie ein Tisch. Auf allen Vieren wirft einen so leicht nichts um." Leseprobe
Ein neues Spielfeld der Literatur
Miranda Julys Roman liest sich wie ein Striptease. Er ist so sexy wie erhellend. Schicht für Schicht strippt sie in "Auf allen vieren" durchgenudelte Konzepte von Lust in die Mottenkiste des 'male gaze', dem männlichen Blick, der viel zu lange Standards weiblicher Erscheinungsformen geprägt hat. Miranda July erschreibt alternden Frauenkörpern mit diesem Buch eine Genuss- und Erkenntnisfähigkeit, die komplexer ist als das pralle Lolitastadium, und noch so wenig erzählt, dass sie der Literatur mit diesem Buch ein neues Spielfeld schenkt.
Auf allen vieren
- Seitenzahl:
- 416 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-00117-4
- Preis:
- 25 €