"Auch Fische können ertrinken": Wenn Erinnerungen krank machen
Dagmar Schifferli beschäftigt sich häufig mit den Schnittstellen zwischen Pädagogik, Psychologie und Literatur. In dem neuen Roman "Auch Fische können ertrinken" kämpft eine Ärztin mit ihren inneren Dämonen.
Dagmar Schifferlis Roman ist inszeniert als innerer Monolog einer Ärztin. Sie erzählt von einer schwierigen, belasteten Kindheit.
Schmerzhafte Wunden aus der Kindheit
Die Ich-Erzählerin leidet an Atemnot und beschreibt die Schwierigkeit, als Medizinerin selbst krank zu werden. Sie begibt sich in ein berühmtes Sanatorium, jenes, wo einst Katia Mann Genesung gesucht hat. Im Roman wird der Ort D. genannt. Hier hat die Erzählerin noch mehr Zeit zu grübeln als zu Hause und mit dem Leben zu hadern. Ihre Kindheit war nicht nur durch die chronisch kranke Mutter belastet, sondern auch durch einen Vater, der die Mutter mit einer Tante des Kindes betrogen hat. Sie führt ihre angeschlagene Gesundheit auf ihre Kindheitsverwundungen zurück:
Sicherlich gibt es unterschiedliche Ausprägungen von Scham. Diejenige, meinem Leben nicht mehr gewachsen zu sein, gehört zu denen, die am tiefsten greifen. Sie krallt sich in mir fest. Manchmal mehr, manchmal weniger. Wenn sie heftig zupackt, vereint sie sich mit dem schwarzen Gefühl des Verlassenseins. Scham. Von Kind auf gelernt. So erbarmungslos beschimpft, dass das Kind erstarrt, während gleichzeitig seine Seele in sich zusammenfällt. Kommen weitere Demütigungen dazu, ist das kleine Wesen überzeugt: Ich bin falsch, unwert, geliebt zu werden. Es ist im Kern vernichtet durch die ständige Kritik der Erwachsenen. Leseprobe
Bittere Erinnerungen sind das, die das Atmen schwer machen. Die Ich-Erzählerin versucht in D. sich zu beschäftigen, sich auch mit der Geschichte des Ortes auseinanderzusetzen. Sie besucht ein Medizinmuseum, wo die Ich-Erzählerin die Rolle, die Tuberkulose in der Literatur spielt, erkundet:
Die verzweifelte Hoffnung, in D. geheilt zu werden, spornte die Tb-Kranken zu einer Reise durch ganz Europa an. Von der Krim kamen sie, aus Danzig, Lodz, St. Petersburg, Kiew, Breslau, Moskau, Krakau. Die Fremdenlisten verzeichneten sie alle mit dem Namen sowie der zusätzlichen Information, in welchem der vielen Sanatorien die Patienten untergebracht waren. Leseprobe
Eine Metapher, die Licht ins Dunkel bringt
Ihre eigene Erkrankung der Atemwege bringt sie auch in Verbindung damit, dass ihr Ehemann regelmäßig mit einer Nachbarin zum Joggen geht. Sie fürchtet, dass Joggen nicht das einzige Bestreben dieser Treffen sein könnte. Ob der Gatte untreu ist oder nicht, geistert durch sämtliche Tag- und Nachtträume. Eine Pflegerin gibt schließlich einen entscheidenden Hinweis auf mögliche Ursachen ihrer Krankheit:
Die Pflegerin stellte sich nochmals an das Fußende meines Bettes, jetzt mit verschränkten Armen über der Brust. Dann sagte sie, jedes einzelne Wort betonend: Auch Fische können ertrinken. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Fische ertrinken? Unmöglich. Dennoch klang es, als hätte die Pflegerin mit diesem einen Satz meine Lebenssituation vollkommen zutreffend erfasst. Leseprobe
Manchmal braucht ein Mensch ein Zauberwort, eine Metapher, ein neues Bild, um etwas zu verstehen, und vielleicht aus einer Falle, in die man sich selbst hineinmanövriert hat, wieder herauszufinden. Bei Dagmar Schifferli und dem fragilen Seelenzustand ihrer Heldin ist es vielleicht im Titel verborgen.
Auch Fische können ertrinken
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Nagel & Kimche
- Bestellnummer:
- 978-3-312-01358-6
- Preis:
- 24 €