"Keine falsche Toleranz": Der Extremismus und die Mitte
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar zeigt in seinem Buch "Keine falsche Toleranz", dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Es stand auf der Shortlist für den NDR Sachbuchpreis.
29. August 2020: Gut 500 Querdenker, Neonazis und Reichsbürger schwenken schwarz-weiß-rote Flaggen und stehen auf den Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin. In Schach gehalten werden sie zunächst von gerade mal drei Polizisten - bevor Verstärkung kommt. "Was wäre passiert, wenn sie nicht aufgehalten worden wären?", fragt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar in seinem Buch "Keine falsche Toleranz". Sicher hätten die 500 Demonstranten nicht das politische System in Deutschland stürzen können. Doch für Kraushaar war dieser Tag ein Alarmruf.
"Die Aktion auf der Reichstagstreppe war eine Farce, aber eine, die eine Fratze gezeigt hat, die eines Umsturzes des Sturzes der parlamentarischen Demokratie." Leseprobe
Ablehnung von Diskussion und Kompromiss
Wie überhaupt konnte es zu dieser Situation kommen? Welche Stimmung ermutigte die Extremisten zu diesem Möchtegern- Putsch? Eine Antwort findet Kraushaar in der Corona Pandemie. Es hätten sich eben nicht nur die Ränder radikalisiert, sondern auch Teile der Mitte der Gesellschaft. "Ich glaube, dass bei den großen Anti-Corona-Demonstrationen im Sommer 2020, ein riesiges Maß an Hass und Emotionalisierung vorhanden war", sagt Kraushaar im Interview mit dem SWR. "Die Nichtbereitschaft, sich auf Gespräche und Diskussionen einzulassen. Das wurde kombiniert mit dem Vorwurf, dass man selbst gegen Verletzungen der Grundrechte demonstrieren würde. Gleichzeitig aber mit der Aufforderung, eigentlich die Bundesregierung absetzen zu wollen."
Schuldige gesucht, wo es keine Schuldigen gibt
Diese Ablehnung von Diskussionen und Kompromiss habe schon bei Pegida angefangen und sei durch die Etablierung der AfD in den Bundestag eingezogen. Die Mechanismen, die zu dieser Radikalisierung der Mitte beigetragen haben, kommen einem vertraut vor.
"Wenn ein Teil der Gesellschaft oder die Bevölkerung im Ganzen gezwungen ist, auf große Katastrophen zu reagieren, dann verlangt sie in aller Regel einen Schuldigen oder ein entsprechendes Kollektiv. Da es für die Covid-19-Erkrankung aber keinen klar auszumachenden Verursacher gibt, projiziert man seine Anklage paradoxerweise genau auf diejenigen, die die Gesellschaft vor einer Ausbreitung des Virus zu schützen versuchen. Die Vertreter von Staat und Medizin." Leseprobe
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit
Dabei steht für Kraushaar fest, wo der eigentliche Feind der Demokratie steht: nämlich rechts. So analysiert er über weite Strecken seines Buches die braunen Flecken in der Geschichte der Bundesrepublik bis hin zu den rechtsextremen Terrorattentaten der vergangenen Jahrzehnte: vom NSU bis zur Ermordung von Walter Lübcke. Kraushaar greift den Begriff von der wehrhaften Demokratie auf, den schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes nach den Erfahrungen der NS-Zeit im Kopf hatten.
Was bedeutet das alles für die Bürger, die in der berühmten Mitte der Gesellschaft verortet werden und trotzdem für den demokratischen Diskurs verloren zu sein scheinen? "Es gibt keine Patentantwort, was man da empfehlen kann, um dieses Potenzial wieder für die parlamentarische Demokratie zurückzugewinnen", sagt Kraushaar.
Kraushaars Buch beschreibt die Krise. Er bietet keine konkreten Lösungen an. Doch klar ist nach der Lektüre eins: Unsere Demokratie ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr.
Keine falsche Toleranz
- Seitenzahl:
- 606 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Europäische Verlagsanstalt
- Bestellnummer:
- 978-3-86393-142-1
- Preis:
- 34,00 €