Sascha Lübbe: "Ganz unten im System"
Wer billiges Fleisch und Waren von überall her schnell und günstig bekommen möchte, sollte sich auch überlegen, wie das System funktioniert und auf wessen Rücken das ausgetragen wird - wer also "ganz unten im System" steckt.
"Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern", so der Untertitel: Spätestens seit dem Fleischskandal beim Großschlachter Tönnies richtet sich das Augenmerk zumindest ab und zu auf die katastrophalen Arbeitsbedingungen, die auch in Deutschland herrschen. Davor kann niemand mehr die Augen verschließen. Aber viel zu oft wird nur über die Menschen geredet, die unter diesen Bedingungen leiden, doch nicht mit ihnen.
Sascha Lübbe tut genau das. Und zielt so darauf ab, dass Gesellschaft und Politik sich bewegen - in eine Richtung, die an diesen Arbeitsbedingungen etwas ändert. Denn wenn ein Land sich auch darüber definiert, wie die am meisten benachteiligten Arbeitenden behandelt werden, dann muss in Deutschland etwas anders werden.
Kein Selbstversuch à la Wallraff
"Ganz unten" kennen wir bereits - vor knapp 40 Jahren erschien Günter Wallraffs Selbstversuch als "Ali"; er berichtete über seine fürchterlichen Erfahrungen als Hilfskraft bei McDonalds oder Leiharbeiter bei einer Großbaustelle; "Ganz unten im System" ist ein neuer Blick, zwar nicht als Selbstversuch in Wallraffscher Manier, aber auch er richtet sich dahin, wo zahlreiche Arbeitsmigrant*innen immer noch den Großteil der Arbeit stemmen: die Schlachtbetriebe, den Bau, das Transportwesen. Dafür geht er in die Baracken, auf die Baustellen, zum Zoll, vor allem hört er mit den Menschen zu, die viele von uns im Alltag nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen, weil sie unsere Drecksarbeit machen.
Lübbe lässt sich erzählen, wie die Männer für ihre Familien ins Ausland gehen und sie dabei verlieren. Wie sie abgezockt werden, wie sie Gewalt erfahren, misshandelt, zur Arbeit gezwungen werden. Erfahrungen, die wir eher in brasilianischen Slums oder chinesischen Umerziehungslagern vermuten.
Lübbe blickt dahin, wo es wehtut
Sascha Lübbe kann Reportage; die Geschichten, die er erzählt, packen, sie atmen den Schmutz und die Verzweiflung derer, von denen er erzählt. Aber selbst wenn sich das manchmal etwas ermüdend liest, so sind die Schauplätze von Lübbes Reportagen immer wieder neu - ob Autobahn oder Zoll.
Gerade wenn eine rechtspopulistische Partei Migrant*innen zum Problem erklärt, muss umso deutlicher klargemacht werden, dass Deutschland ohne diese Migrant*innen ein Problem hat. Lübbe spricht außer mit auch mit Gewerkschaftlern und Professorinnen darüber, wie diese Missstände sich lösen lassen und warum sie gelöst werden müssen.
Ein wichtiges Buch, das dahin blickt, wo es wehtut, wo unsere Gesellschaft nicht so ist, wie wir sie gerne hätten, und dahin, wo wir ansetzen können, um es besser zu machen.
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- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Hirzel
- Veröffentlichungsdatum:
- 14.05.2024
- Bestellnummer:
- 978-3-7776-3408-1
- Preis:
- 22 €