Stand: 11.11.2014 17:29 Uhr

"Tumult": Hans Magnus Enzensberger ganz privat

von Martina Kothe

Am 11. November 2014 feiert der Schriftsteller und Lyriker Hans Magnus Enzensberger seinen 85. Geburtstag. Seinen kritischen Geist, seinen wachen Kopf konnte er sich bewahren, und so zählt Enzensberger zu der immer kleiner werdenden Gruppe deutscher Intellektueller (Grass, Negt, Habermas, Walser), die auch im hohen Alter noch eine Stimme, eine Meinung haben und die, vielleicht, aus der bewegten Vergangenheit gelernt haben. Um diese Vergangenheit - genauer um den Tumult der 60er- und 70er-Jahre - geht es in Hans Magnus Enzensbergers neuem Buch mit dem Titel "Tumult", das jetzt auch als Hörbuch erschienen ist.

Es wird Privates preisgegeben

Hans Magnus Enzensberger ist ein Autor, der immer bekannt dafür war, wenig Privates preiszugeben. In seinen Erinnerungen jedoch bekennt er sich.

Er bekennt sich zu Peinlichkeiten, zu einer Amour Fou, die in seine Ehe mit Maria Aleksandrowna Marakowa, genannt "Mascha", mündete (, die er übrigens - ganz der Schriftsteller - seinen "russischen Roman" nennt), er bekennt sich zu den eigenen, manchmal wirren, Vorstellungen und Gedanken, die man Ende der 60er Jahre als "Berufslinker" hatte und die in seinem Fall zu einem längeren Aufenthalt auf Kuba führten.

Es war ein zufälliger Kellerfund alter Tagebücher und gekritzelter Notizen, der ihn zu einer Auseinandersetzung mit dem rastlosen Dichter, dem Sucher und Vermeider von einst bewegte:

Zitat

[…] der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren […] angetroffen habe. Dieses Ich war ein anderer. Ich sah nur eine Möglichkeit, mich ihm zu nähern: den Dialog mit einem Doppelgänger, der mir wie ein jüngerer Bruder vorkam, an den ich sehr lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Ich wollte ihn ausfragen. Doch war mir weder an einem Verhör noch an einer Beichte gelegen. […] Das einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?

Und so entspinnt sich ein ungewöhnlicher Dialog. Enzensberger spricht mit Enzensberger. Wunderbar umgesetzt von dem Schauspieler Stefan Hunstein, der mit seiner zurückgenommenen Art den Worten zu ganzer Geltung verhilft.

Ein Kosmopolit

So erfahren wir: Das Warten hält Hans Magnus Enzensberger nicht aus. Eine Eigenschaft die ihn zum Kosmopoliten werden lässt, denn "nichts verkürzt die Zeit leichter als ein Ortswechsel" sagt Enzensberger. Und so steht er eines Tages am Flughafen von New Delhi.

Von dort reist er nach Moskau, dann nach Amerika, zwischendurch immer wieder nach Schweden, Norwegen, London, Paris, dann nach Kuba. Und nebenher und nebenbei ist Hans Magnus Enzensberger in Berlin und damit im Epizentrum der linksintellektuellen Bewegung.

"Berühmt waren wir damals alle"

Enzensberger trifft alle, kennt alle oder vielmehr kannte sie, die damals Rang, Namen, eine Stimme, meist kein Geld, aber Bedeutung hatten. Nicht ohne Koketterie bekennt er: "Ach, berühmt waren wir damals alle". Er wohnt einem Basketballspiel mit Fidel Castro bei und badet mit Chruschtschow.

Zitat

Die zehn Minuten im Schwarzen Meer waren womöglich die einzig behaglichen des Tages, für den Gastgeber und für uns. […] Undeutlich an Chruschtschow bleibt nach dieser Begegnung nicht viel. Durch ein Plebiszit oder durch parlamentarische Wahlen wäre dieser Mann nie in den Besitz der Macht gelangt. Er ist unscheinbar. Das hat ihn vermutlich gerettet. Seine Stärke ist die eines Menschen, der zu überleben vorhat. […] Von seiner größten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht. Ein Mann ohne Geheimnis an der Spitze des Staates: das ist in der Welt selten, in Russland ist es unerhört. An "Ausstrahlung" fehlt es ihm ganz und gar. Ihm gegenüber stellt sich eher Langeweile ein, nie und nimmer jene Faszination, der ein Mann wie de Gaulle sein Wirkung verdankt.

Der Weg und die Worte zählen

Immer wieder unterbrochen wird das Buch durch Postskripta, auch von solchen,  die in die Zukunft gerichtet sind, und doch von der Vergangenheit handeln:

Zitat

Ich bin ungefähr 85. Wie es früher war, danach erkundigen sich manchmal meine junge Frau Katharina, meine Töchter, oder ein Journalist, oder irgendein Student, der vor oder hinter seinem Namen Abkürzungen wie Dr. oder M.A. benötigt und deshalb eine Arbeit abliefern muss. Mit solchen Auskünften sieht es schlecht bei mir aus. Mein Gedächtnis gleicht einem Sieb, in dem wenig hängenbleibt. Das liegt nicht an meinem Altern. […] Allerdings lässt mein Interesse an einer Autobiografie zu wünschen übrig. Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft.

Und vielleicht zählt am Ende, als der Autor über jene spricht, die schon begraben sind, die ihn in den bewegten Jahren begleiteten, vielleicht zählen am Ende auch nur der Weg und die Worte eines Autors, der noch viel zu sagen hat und dem man zuhören möchte.

Zitat

Insgesamt war meine Reise um die Welt sinnlos, anstrengend, aber schön. So wie es Imre Kertész in seinen Tagebüchern ausgedrückt hat.

Tumult

Verlag:
der Hörverlag
Bestellnummer:
978-3-8445-1658-6
Preis:
21,99 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Hörbücher | 11.11.2014 | 15:20 Uhr

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