Was bedeutet Familie?
In unserer Sommerserie "Norddeutsche Familienromane" stellen wir sechs Autoren von Familienromanen vor.
Teil 5: "Nie mehr Nacht" von Mirko Bonné.
"Die Beifahrertür ging auf. Mein Vater stellte Jesses Rucksack in den Fußraum und zwinkerte mir zu. Ich roch sein Aftershave. 'Habt eine schöne Zeit, Markus. Arbeite nicht zu viel. Mach lieber Skizzen. Deine Skizzen waren immer wunderbar. Skizzen, hörst du?'" (Buchzitat)
Der Zeichner Markus Lee erhält den Auftrag, in der Normandie die alten Brücken aufzusuchen und zu zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 von Bedeutung waren. Seine Eltern bitten ihn, den fünfzehnjährigen Jesse mitzunehmen, den Sohn seiner Schwester, deren Selbstmord noch nicht lange zurückliegt. Das ist die Ausgangssituation im neuen Roman des Hamburger Schriftstellers Mirko Bonné "Nie mehr Nacht".
Erinnern und Verdrängen
Der Umschlag zeigt eins von Christian Brandls berühmten Gemälden, auf dem ein Mann gedankenversunken an einer Hauswand lehnt.
So soll man sich offenbar den Protagonisten vorstellen. "Mein Verleger hat das Bild glaube ich deswegen genommen", meint Mirko Bonné, "weil er meint, diese Figur ist mir selber ähnlich, mit der Zigarette, mit den Geheimratsecken und so weiter."
Aber es passt auch gut zu Markus Lee, dessen Name ja nicht ohne Grund so ähnlich klingt wie Mirko Bonné. Bei seiner Reise an die französische Nordküste hat er das Buch des Amerikaners McCoy Lee dabei, in dem die Kämpfe 1944 aus der Sicht eines Beteiligten geschildert werden. "Sein Lieblingsbuch, in dem er immer wieder liest, ist der Grüne Heinrich von Gottfried Keller. Und dort heißt die Hauptfigur Heinrich Lee, mit Doppel-e geschrieben genauso wie Markus Lees Nachname. Der Vater von Markus Lee, meinem Zeichner, heißt auch Heinrich Lee. Der Vater kann nichts mit dem Buch anfangen, der Sohn umso mehr", erklärt Bonné.
Historische Figuren zum Leben erwecken
Schon in seinem Roman "Der eiskalte Himmel" über Shackletons Antarktis-Expedition im Ersten Weltkrieg und in "Wie wir verschwinden" über Albert Camus' tödlichen Unfall hat Mirko Bonné mit historischen und literarischen Versatzstücken gearbeitet.
"Ich versuche halt, meine Romane sozusagen in die Vergangenheit zu öffnen und sogar die Gestalten, die ich aus der Geschichte herauslöse und beleuchte, wieder zurückzuholen zu dem, was sie als Menschen vielleicht mal gewesen sind, wie sie ihr Leben, ihren Alltag erlebt haben.
Das habe ich bei Camus gemacht, das habe ich bei Shackleton gemacht, und das mache ich jetzt auch, indem ich diese Soldaten, diese jungen Männer, beschreibe - einer davon war mein Großonkel, der mit neunzehn in der Normandie gefallen ist. Das ist das, was mich gereizt hat: den D-Day zu einem literarischen Stoff zu machen."
Ein Familienzerwürfnis(roman)
Doch das ist nur die atmosphärische Kulisse für ein persönliches Drama, das sich in der Jetztzeit abspielt. Markus Lee durchleidet eine tiefe Krise, in der es ihm nicht gelingt, Bindungen zu empfinden. Er müsste sich um seinen Neffen kümmern, doch er findet keinen Zugang.
Markus lässt Jesse mit Freunden nach Hamburg zurückreisen und entledigt sich nach und nach all seiner Habseligkeiten, zuletzt sogar seiner Papiere sprich seiner Identität. Es wäre eine Geschichte ohne Happy-End, gäbe es da nicht doch noch eine Märchenfee in Gestalt einer elsässischen Doppelgängerin. "Nie mehr Nacht" ist alles andere als ein schöner Familienroman.
"Es ist ein Familienzerwürfnisroman. Ich stell mir schon die Frage: Was bedeutet Familie eigentlich? Aber es geht auch um mehr, es geht um die Frage: Wo ist die Liebe? Wo kann ich sie finden, und ist die Familie sozusagen der Ort, wo es immer um Liebe geht? Und was passiert, wenn eine Familie zerbricht, also wenn einer aus dieser Familie nicht mehr kann und nicht mehr will, was passiert dann mit dieser Familie?"
Mirko Bonné ist auch Lyriker, und eine große Stärke des Romans liegt in den mit Bedacht gewählten und poetisch geschilderten Schauplätzen, an denen der Held seine Einsamkeit leben kann. Wie auf einem Brandl-Bild!
Hamburger Autor mit vielen Interessen
Mit zehn Jahren kam Mirko Bonné von Bayern nach Hamburg. In der Hansestadt machte er 1986 Abitur und arbeitete nach dem Zivildienst als Buchhandelsgehilfe, Altenpflegehelfer und Taxifahrer.
Seit Beginn der Neunzigerjahre ist Bonné als Journalist tätig, schreibt Gedichte, Romane, Essays, Kritiken sowie Aufsätze und Reisejournale. Außerdem übertrug er Werke fremdsprachiger Autoren wie Sherwood Anderson, E. E. Cummings oder Emily Dickinson ins Deutsche.
Für sein Werk wurde Mirko Bonné mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ernst Willner-Preis (2002), dem Prix Relay du Roman d'Evasion (2008) und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010). Mirko Bonné ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und lebt in Hamburg.