NDR Buch des Monats April: "Halbinsel" von Kristine Bilkau
In "Halbinsel" stellt Kristine Bilkau existenzielle Fragen. Am Donnerstag hat die Hamburgerin für den Roman den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse erhalten.
"Halbinsel" ist geprägt durch den "bilkauschen" Erzählton - ruhig, eindringlich, kein Wort zu viel. Der Jury der Leipziger Buchmesse hat dieser Ton offenbar gefallen - und auch die Fragen, die Kristine Bilkau in ihrem Roman aufwirft, haben einen Nerv getroffen. "Leicht nacherzählbar scheint dieses Buch zunächst, doch das ist eine Täuschung", schreibt die Jury in der Begründung. "Kristine Bilkau trägt sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern."
Was ist das richtige Leben?
Was wird aus uns, wenn unsere Kinder einmal groß sind? Was wird aus den Kindern, nachdem wir sie entlassen haben in eine immer unfreundlichere Welt? Wie sehr steht die innige Fürsorge fürs Kind seiner Freiheit im Weg? Was ist das richtige Leben, und wieviel Falschheit lässt sich darin ertragen? Das sind die Fragen, die Kristine Bilkaus Ich-Erzählerin umtreiben: Annett ist Ende 40, stellvertretende Leiterin der Stadtbibliothek einer Kleinstadt, bei der es sich um Husum handeln müsste. Vor 20 Jahren hat sie ihren Mann verloren, eine Herzattacke riss ihn aus dem Leben, mit 32. Still schaut sie sich nun ihre Tochter an und schüttelt den Kopf:
Fünfundzwanzig würde sie diesen Winter werden, alle diese Jahre, diese gesamte Zeit schien mir so überschaubar, so verschwindend schnell vergangen, als stünde ich an einer Bahnschranke und ein Zug rast vorbei, da kommt er, da ist er, da fährt er, und dann höre ich nur noch sein Rauschen aus der Ferne wie ein Echo. Schwanger werden, ein Kind zur Welt bringen, den Partner verlieren, das Kind großziehen, es davongehen sehen, diese Jahre: hier, das sind sie gewesen, und hier, das sind die Fehler, die du gemacht hast. Leseprobe
Die Rückkehr der Tochter wird zu einer Herausforderung
Kristine Bilkau erzählt die Geschichte eines langen Sommers an der Nordsee. Völlig unerwartet ist Annetts Tochter ins heimatliche Dorf auf der Halbinsel zurückgekehrt. Nach dem Abitur war Linn mit rauschhafter Ambition ins Erwachsenenleben geflogen, hatte die Welt gesehen, ihr Studium schnell und erfolgreich durchgezogen, in Berlin einen vielversprechenden Job bei einem Unternehmen für Umweltberatung angenommen.
Dann aber ist sie während eines Vortrags in einem Hotel in Nordbrandenburg zusammengebrochen: ein Schwächeanfall. Im Elternhaus auf der Halbinsel soll sie sich auskurieren, Annett freut sich, sie endlich wieder ganz nah bei sich zu haben. Aber bald schon steigt eine Spannung auf, die Spannung zwischen Sicherheit und Zerbrechlichkeit, die das Leben auf einer Halbinsel charakterisiert: Da ist zum einen die unbändige Liebe für die Tochter, zum anderen die zunehmend ungeduldige Erwartung, dass sie sich bald mal wieder aufrappelt und so ehrgeizig wie je weitermacht. Linn aber verweigert sich:
"Ab morgen arbeite ich zweimal die Woche beim Bäcker", sagte Linn, während sie die Einkäufe hereintrug.
"Wie? Was meinst du damit?", fragte ich.
"Bei Diekmann, hier im Ort."
"Du meinst - an der Theke verkaufen?"
"Was ist nicht in Ordnung mit einer Bäckerei?"
"Nichts, ich meine alles. Alles ist damit in Ordnung."
Aber du sollst da nicht arbeiten, dachte ich. Annett, was bist du so borniert?, hörte ich Johann sagen.
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Kann die Vergangenheit einen Weg in die Zukunft zeigen?
Johann, der lange verstorbene Gefährte, als innere Stimme immer noch lebendig, als Mahner zu Gelassenheit. Versteh dein Kind, versteh dich selbst. Alles Gerede von Klimaschutz ist, solange die kapitalistische Logik herrscht, nichts als Heuchelei - da will Linn nicht mehr mitmachen, sie braucht die Nische, wer bräuchte sie nicht? Da ist dieser neue Nachbar, Levin, ungefähr so alt wie Johan, als er starb - lässt sich in der Gegenwart an altem Glück anknüpfen? Kann die Vergangenheit einen Weg in die Zukunft zeigen? Warum eigentlich nicht?
Es grenzt an ein Wunder, wenn man geliebte Menschen um sich hat und sie nicht zu früh verliert. Ein noch größeres Wunder ist es, wenn es einem mehrmals im Leben gelingt, jemanden zu finden, der es gut mit einem meint.
Mit einer ruhigen, lakonischen, einnehmenden Sprache fängt Kristine Bilkau das Existenzielle ein, das darin besteht, jemanden zu lieben und sich um jemanden zu sorgen; wie magisch das ist und wie brutal. Und sie zeigt wieder einmal: Jeder von uns lebt einen Roman. Wer Glück hat, bekommt ihn geschrieben von Kristine Bilkau.
Halbinsel
- Seitenzahl:
- 244 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87730-3
- Preis:
- 24 €
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