NDR Buch des Monats April: "Solange wir leben" von David Safier

Stand: 17.04.2023 06:00 Uhr

David Safiers Roman "Solange wir leben" ist eine zärtlich geschriebene Liebeserklärung an seine eigenen Eltern - und eine packende, emotional tief berührende Lektüre.

von Walli Müller

Er ist bekannt für lustige Bücher: Mit "Mieses Karma", "Happy Family" oder zuletzt "Miss Merkel" hat der Bremer Autor David Safier Bestseller gelandet. Aber man sollte nicht vergessen, dass er mit "28 Tage" auch schon mal einen Holocaust-Roman geschrieben hat. Dafür gibt es einen autobiografischen Grund: Sein Vater war jüdischer Herkunft und entkam nur durch ein Wunder der Deportation durch die Nazis. In seinem neuen Buch erzählt David Safier nun die Lebensgeschichte seines Vaters - und seiner Mutter. Denn wie diese beiden Menschen zueinander gefunden haben, das ist wirklich romanreif!

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David Safier erzählt die Liebesgeschichte seiner Eltern

Es sind nicht nur 20 Lebensjahre, die Joschi und Waltraut trennen, sondern auch Welten. Er: Wiener Jude; neben seiner Schwester der einzige Holocaust-Überlebende der weitverzweigten Familie Safier. Sie: Werftarbeiterkind aus Bremen; im Krieg ausgebombt, mit 21 schon alleinerziehende Witwe. Als sie 1961 mit Freundinnen ihren 25. Geburtstag feiert, steht in der Eisdiele plötzlich dieser gutaussehende ältere Seemann vor ihr:

Joschi stand am Tisch der drei Frauen: (…) die dritte, die, die Geburtstag hatte, war wunderschön. Eine Erscheinung, die ihn sofort in ihren Bann schlug. Und alle drei so jung, dass sie nichts mit den Verbrechen der Nazis zu tun haben konnten. Er hatte lange nicht mehr mit einer jungen Frau geflirtet. Aber jetzt wollte er es mit einem Male wieder, so verzaubert war er. Leseprobe

Wie schreibt man über die Liebesgeschichte seiner eigenen Eltern? Wie verwandelt man Mutter und Vater in Romanfiguren? David Safier hat zwölf Jahre lang so gründlich darüber nachgedacht, dass er sich eines Tages nur noch hinsetzen und loslegen musste. Die realen Namen behielt er bei; der Tonfall ist zurückhaltend, mehr nüchterner Tatsachenbericht als fabulierender Roman. "Ich gehe nicht mit allen Mitteln, die ich als Autor habe, hinein, um hoch zu dramatisieren, sondern beschreibe", erklärt Safier. "Zum Beispiel gibt es da eine Szene, als mein Vater an der Uni Wien studiert hat. Dort sieht er, wie jüdische Mitkommilitonen aus dem Fenster geworfen werden. Das einfach nur zu beschreiben, ist schon hart genug. Das muss ich nicht noch plastisch ausschmücken."

Über die Lebensgeschichte seiner Eltern wusste Safier zunächst selbst nur Bruchstücke. Denn wie so viele ihrer Generation haben Mutter und Vater über Kriegstraumata beharrlich geschwiegen. In seinem Buch steckt also viel Rekonstruktionsarbeit: "Die allererste Regel für mich ist: Alles in dem Roman muss emotional wahr sein. Also entweder haben’s meine Eltern mir erzählt - was nicht sonderlich viel war -, ich hab’s recherchiert oder ich hab’s selbst miterlebt. Außerdem kenne ich die beiden ja. Und mit 56 kann ich mir auch sehr gut vorstellen, wie diese Menschen zusammen mit diesen Ereignissen so geworden sind, wie sie sind. Das macht es emotional wahr für mich."

Eine Geschichte voller Schicksalsschläge

"Solange wir leben" ist abwechselnd aus Joschis und Waltrauts Perspektive erzählt - bis sie sich auf Seite 215 erstmals begegnen. Und immer wieder hält man den Atem an, weil das Schicksal solche Zumutungen für beide bereit hält. Ein Leben lang werden Joschi Schuldgefühle verfolgen, weil er als junger Mann erst den Vater im Gestapo-Gefängnis und dann die Mutter allein in Wien zurücklassen muss - den eigenen Fahrschein nach Palästina in der Tasche.

Joschi wollte seine Mutter beschützen. Er konnte es nicht. Würde er sie nun umarmen, um ihr Halt zu geben, wäre dies nur ein weiteres falsches Versprechen. Leseprobe

Unglaublich, dass sich dieser Mann dann Jahre später ausgerechnet in eine junge Deutsche verliebt und die Größe hat, für sie ins Land der Täter zurückzugehen! "Mein Vater hat diese Frau so sehr geliebt, dass er ihr nicht zumuten wollte, noch nicht mal 20 Jahre nach dem Holocaust, nach Israel zu gehen. Damit lädt er sich natürlich einiges auf."

Das NDR Buch des Monats im Programm

Die NDR Kultur Redaktionen von Radio, Fernsehen und Online wählen jeden Monat ein belletristisches Buch aus, das besonders gut zu Norddeutschland passt. NDR Kultur sendet die Rezension am 8. Mai 2023, 06.40 und 12.40 Uhr, NDR Info um 10.55 Uhr. Im Kulturjournal des NDR Fernsehens ist der Beitrag am 8. Mai 2023, 22.45 Uhr zu sehen.

"Solange wir leben": Packender und tief berührender Roman

In der Vita seiner Eltern, die auch in der gemeinsamen Bremer Zeit alles andere als glatt verläuft, spiegeln sich 80 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte. Das macht David Safiers Buch so lesenswert. Mit seiner eigenen Geburt 1966 erfüllt sich für den Vater - nach einer kinderlosen ersten Ehe in Israel - noch der größte Herzenswunsch.

Jeder Augenblick, an dem er seine Frau sah oder seinen Sohn in der Wiege betrachtete, war für ihn ein Geschenk Gottes, den es vielleicht doch gab. Leseprobe

Allein seine Existenz ist ein stiller Triumph über die Nazis - aber auch eine große Verantwortung, die zeitweise auf Safier lastete: "Unbewusst ist da immer dieser Affe auf der Schulter gewesen: Ich muss etwas ganz Besonderes sein, ich muss es irgendwie hinkriegen auf dieser Welt, es muss sich alles lohnen - für beide."

Seinen verstorbenen Eltern aber hat David Safier nichts vorzuwerfen. Das Buch ist eine zärtlich geschriebene Liebeserklärung an sie - und eine packende, emotional tief berührende Lektüre.

Solange wir leben

von David Safier
Seitenzahl:
464 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Kindler
Bestellnummer:
978-3-463-00030-5
Preis:
24 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 17.04.2023 | 06:40 Uhr

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Romane

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