"Wir verlieren unsere Kinder": Was Kinder im Netz sehen und tun
Tierquälerei, Pornos, gefährliche Mutproben: Wissen Sie, was Ihr Kind auf dem Smartphone sieht? Das fragt Schulleiterin Silke Müller. In ihrem Buch "Wir verlieren unsere Kinder" appelliert sie, nicht länger wegzusehen.
Gewalt unter Kindern, Pornografie und Cybermobbing: Aufnahmen davon sind illegal - und doch kursieren sie im Netz, frei zugänglich, auch für Minderjährige. Wie konnte es so weit kommen? Silke Müller, Schulleiterin in Niedersachsen, fällt in ihrem Buch ein knallhartes Urteil: "Ich glaube, dass wir uns sehr ehrlich machen müssen und die Schuld bei uns suchen müssen. Damit meine ich die ganze Generation von uns jetzt, vielleicht auch eine Generation zurück, die im Grunde genommen es nicht geschafft hat, Werte und Normen zu transformieren für ein friedvolles Zusammenleben im Netz. Mit Netz meine ich natürlich im Speziellen die sozialen Netzwerke, in denen Menschen miteinander interagieren."
Schülerin: "Die Videos bleiben mir im Hinterkopf"
Was machen solche Bilder mit unseren Kindern? Haben sie Alpträume, entwickeln sie Ängste, oder stumpfen sie schlicht ab? Die wenigsten gehen zu ihren Eltern. Auch dieses Mädchen möchte im Gespräch lieber unerkannt bleiben: "Ich war ganz normal auf TikTok und dann hat so ein Mädchen gesagt: 'Habt ihr schon das neue Video gesehen?' Ich war natürlich neugierig. Das erste Video, was mir dann gezeigt wurde, war so ein Mädchen, das einen kleinen Jungen gefilmt hat. Sie hat den kleinen Jungen gezwungen, mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben. Ich glaube, der Junge war gar nicht so alt. Er war ein Jahr alt oder so. Ich finde die Videos schlimm und die bleiben mir auch ganz oft im Hinterkopf und ich vergesse sie auch nicht so schnell."
Müller bietet ihren Schülerinnen und Schülern Hilfe und Unterstützung. Sie hat als erste an ihrer Schule in Niedersachsen eine Social-Media-Sprechstunde eingeführt. Die Themen der Kinder und Jugendlichen: gefährliche Challenges, Cybermobbing und verstörende TikTok-Videos.
Links bei TikTok führen zu brutalen Telegram-Kanälen
"Diese Videos, die kann man zum Glück nicht komplett auf TikTok sehen", erzählt Lehrer Thomas Hillers. "Allerdings laufen die immer so lange, bis unmittelbar diese Situation entsteht in dem Video, wo die Person ermordet wird, hingerichtet wird oder missbraucht wird. Und da steht dann immer drüber 'Du willst dieses Video nicht sehen?', 'Schau dir niemals dieses Video an!' oder 'Willst du wissen, worum es geht?'. Dann schaut man in die Kommentare und dann beginnt eigentlich diese perfide Masche. Dort werden dann Links gepostet: 'Schau mal auf dieser Seite nach'. Oder: 'Willst du das komplette Video haben? Dann schick mir einen Link oder lade Telegram runter und trete in diese Gruppe ein.' Und dort werden diese Videos zu hunderten geteilt und verbreitet."
"Das beeinflusst Jugendliche gerade ganz schön", erzählt die TikTok-Userin, die anonym bleiben möchte. "Es gibt natürlich auch lustige Videos oder Videos mit anderen Sachen, die viral gehen. Aber am meisten sind es ja diese Gewaltvideos und diese Pornografie. Ich glaube, das beeinträchtigt Leute, die viral gehen wollen und ein bisschen mehr Zuschauer haben wollen. Ich glaube, es bringt sie auch dazu, so etwas zu machen."
Schulleiterin Silke Müller über Dick-Pic-Challenges
Sogenannte Challenges fordern Kinder und Jugendliche auf, in der echten Welt illegale Dinge zu tun und diese in den sozialen Netzwerken zu posten. Je drastischer, desto mehr Klicks. Ein Beispiel aus Silke Müllers Schulalltag: die Dick-Pic-Challenge, von der ihr eine 12-Jährige erzählte. "Das Ziel dieser Challenge war, wer von den Mädchen als erste ein sogenanntes Dick Pic, also das Bild eines erigierten Penis', erhalten würde. Das hat mich total erschrocken, weil ich bis dahin immer dachte: Okay, unsere Kinder sind nur Opfer. Dass unsere Kinder auch eine Haltung entwickeln, in der sie sehr provokativ unterwegs sind und möglicherweise jegliche Hemmschwelle überwinden, die für mich bis dato noch normal waren, so natürliche Hemmschwellen, das war für mich vollkommen neu."
Die Schuldirektorin will mit ihrem Leitungsteam das analoge und das digitale Geschehen an ihrer Schule im Blick behalten. Denn oft beginnen gefährliche Trends im Netz und werden von dort in die Schulen getragen. Die Hustensaft-Challenge zum Beispiel: Dabei wird kodeinhaltiger, verschreibungspflichtiger Hustensaft, der abhängig machen kann, in einen Softdrink gemischt.
Anleitungen für gefährliche Drinks mit Kodein
"Wenn man das schüttelt, entsteht so eine lila Flüssigkeit und dieses Bild der lila Flüssigkeit in der Sprite, das waren tatsächlich die Bilder, die bei Tiktok geteilt wurden, immer mit der Anleitung, wie man das dann herstellt", erzählt Müller. "Die Wirkung ist aufputschend und es besteht natürlich eine große Suchtgefahr. Da müssen wir jetzt schnell hinterher sein in der Aufklärung, um Gefahren abzuwenden aufgrund dieser Suchtgefährdung und Rauschwirkung. Deshalb machen wir klare Ansprachen an die Kinder und an die Eltern, damit dann ein gegenseitiger Kontrollmechanismus einsetzt."
Die Waldschule in Hatten wurde mehrfach ausgezeichnet. Digitalisierung wird hier nicht, wie so oft, gleichgesetzt mit Technisierung. Hier geht es um Inhalte: Informatik, Coden lernen, den Umgang mit KI und noch viel mehr: "Wir müssen tatsächlich ein Grundverständnis für digitale Ethik vermitteln", sagt die Schulleiterin. "Und digitale Ethik aufbauen, um die Kinder resilient und zukunftsfähig zu machen - für eine sehr herausfordernde Welt."
Buchautorin: Handy wegnehmen ist keine Lösung
"Empathie schulen ist natürlich auch ein wichtiger Punkt", ergänzt Lehrer Hillers. "Man möchte natürlich nicht, dass sie so emotional abstumpfen, dass nichts mehr an sie herankommt. Das muss man trainieren, muss man üben."
Den Kindern das Handy wegnehmen, das Internet verteufeln: keine Lösung, sagt die Autorin. Wir dürfen den Kontakt zur Realität unserer Kinder, die sowohl analog als auch digital aufwachsen, nicht verlieren. Sie fordert Verantwortung in ihrem äußerst aufschlussreichen Buch "Wir verlieren unsere Kinder".