Tomi Ungerer: Der Meister des feinen Strichs
Der Künstler Tomi Ungerer war ein Rebell und Provokateur, aber einer im Namen der Aufklärung und Toleranz. Entdecken kann man das in der Ausstellung in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg, aber auch im vorzüglichen Katalog der Schau.
"Wer sich selbst zu ernst nimmt, tappt in eine Falle." Diesen Ungerer-Aphorismus hat bereits der zehnjährige Tomi formuliert. Allerdings nicht mit Worten, sondern mit Bleistift, Buntstift und auf hauchdünnem, benutztem Schreibmaschinenpapier. 1941 zeichnet er seinen Onkel Wilsdorf: Ein eitler Geck mit knallroter, enger Hose, die das Bäuchlein nicht zu verdecken weiß. Das karierte Hemd in papageiengelb, die Schiebermütze und die Zigarre im spitzen Mund erzählen von einem, der Großes vorhat: jeden Morgen der Welt eine neue Erzählung seines Draufgängertums unterzujubeln.
Aber Tomi Ungerer, der damals noch Jean-Thomas Ungerer heißt und im elsässischen Colmar aufwächst, beobachtet, zeichnet und entlarvt. Mit zehn die Verwandtschaft. Mit zwölf die deutschen Soldaten und ihr überbordendes Marschgepäck: Vom Knobelbecher bis zum Bajonett hängen, baumeln, wedeln da Würste, Bratenkeulen, hölzerne Pendeluhren. Akkurat, immer hungrig und den Blick stumpf geradeaus gerichtet - so sehen sie aus, die Nazis, für den Zwölfjährigen. In der Schule muss er ihre Lieder singen, aber zu Hause, wo sich die Familie das Französisch nicht verbieten lässt, fliegt sein spitzer Bleistift übers Papier.
Menschenfreund und ein Gesellschaftsfeind
Tomi Ungerer war ein Menschenfreund und ein Gesellschaftsfeind. Auf nahezu jeder seiner Zeichnungen ist das zu entdecken. Der Katalog versammelt Werke aus 80 Jahren. Die Welt schien für den 2019 gestorbenen Meister des feinen Strichs ein einziges künstlerisches Experimentierfeld: Kinderbuchillustrationen, jenseits von jeder Niedlichkeit, satirische Tuschezeichnungen, politische Plakate, erotische Bildserien schuf er. Und am Ende seines Lebens, als die Augen versagten, Großcollagen. Chronologisch ist das künstlerische Leben Ungerers im Katalog abgebildet, die umfangreichen Texte liefern den biografischen Hintergrund, erzählen von künstlerischen Vorbildern, erklären die stilistischen Brüche.
Tomi Ungerers Werbegrafiken preisen kein Produkt, sie fallen den Marken, um die es geht, mitunter sogar in den Rücken. Er hat trotzdem oder gerade deshalb Erfolg. "People who know the ropes read the New York Times" - "Menschen, die sich auskennen, lesen die New York Times" - steht auf dem Plakat mit einem angedeuteten Boxring. Dessen Begrenzungsseile sind kaum zu entziffernde Zeitungsschlagzeilen. In der Ecke versorgt jemand die blutige Nase eines schmalen Männchens. Breitbeinig und schlaff hängt dieser Boxer auf dem Hocker. Ein Besiegter, der Hilfe braucht.
Tomi Ungerers klare Bildsprache
Für seine Aussagen findet er knappe Gesten, eine klare Bildsprache, graphische Formen. Auf einem Plakat gegen den Vietnamkrieg rammt eine Hand die Freiheitsstatue tief in den Schlund eines Asiaten. Schrillrot stehen daneben drei Buchstaben: EAT!
Wenn der Soziologe mit dem Stift im Anschlag die New Yorker High Society porträtiert, dann sieht man spitze Brüste und einfältiges Grinsen, pinke Kleider und steil stehende Wimpern, die keinen Blick aufs Gegenüber zulassen. Jedes Gesicht ist ein einsamer, lächelnder Totentanz. Mit "The Party" aus dem Jahr 1966 hat Tomi Ungerer das gezeichnet, was sein Freund Tom Wolfe 21 Jahre später in dem Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten" beschreibt.
Aber gleich danach ist der Witz in Ungeres Zeichenwelt zurück: Eine Karikatur eines uniformierten Admirals. Im exakten Winkel hält der schneidige Alte das Fernrohr. Sein aktuelles Schiff aber hat Räder: Er wurde im Rollstuhl in ein Museum gefahren und muss den Feind auf den Schiffsporträts an der Wand suchen.
Das Absurde der Wirklichkeit
Der Ungerer-Kosmos ist so grenzenlos, seine Beobachtungsgabe so phänomenal, sein Pendeln zwischen illustrierender, angewandter und freier Kunst so leichtfüßig und sein Humor so pessimistisch, dass man das Absurde der Wirklichkeit für einen kleinen Moment mit Ungerers Augen sieht. Und dann hört man ihn im Hinterkopf grummeln: "Nicht hoffen, handeln!"
It's All About Freedom
- Seitenzahl:
- 264 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 180 Abbildungen
- Verlag:
- Verlag Hatje & Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5205-3
- Preis:
- 44,00 €