Sütterlin-Sprechstunde in Hannover: Hilfe beim Entziffern
In der Sütterlin-Sprechstunde der Jakobi-Kirchengemeinde in Hannover entziffert die 95-jährige Expertin Lieselotte Schmidt am letzten Mittwoch im Monat alte Dokumente in Schreibschrift. Ein Treffen.
Haben Sie schon einmal eine alte Geburtsurkunde Ihrer Vorfahren in den Händen gehalten und sich gefragt, was da so alles steht? Wer Probleme mit dem Entziffern von alten Schriften hat, ist in der Jakobi-Kirchgemeinde in Hannover richtig.
Hier gibt es einmal im Monat eine Sütterlin-Sprechstunde, in der Lieselotte Schmidt, die die Sütterlin-Schrift noch selbst in der Schule gelernt hat, alte handschriftliche Texte in die gegenwärtige Schrift "übersetzt".
Original-Federkasten von 1934 zum Schreiben in Sütterlin-Schrift
"Dieses hier ist mein Original-Federkasten, mit dem ich 1934 eingeschult wurde und da drin waren solche Federhalter, und da wurden dann Federn aufgesteckt."
Lieselotte Schmidt, die hier nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden will, hat einen grünen, hölzernen Federkasten aufgeklappt und steckt eine Stahlfeder auf einen buntmelierten Halter. Mit einem ähnlichen Gerät hat sie in den 1930er-Jahren das Schreiben gelernt.
Seit 1911 gibt es Sütterlinschrift - sie löste Kurrentschrift ab
Seit 1911 gab es die Sütterlinschrift, die ihre Vorläuferin, die deutsche Kurrentschrift als Schreibschrift ablöste, sagt die 95-Jährige. "Die deutsche Kurrentschrift unterschied sich von der Sütterlinschrift dadurch, dass sie schräg geschrieben wurde - mit einer anderen Art von Handhaltung, mit einer anderen Art von Schreibgerät. Zunächst also mit Gänsefedern, dem sogenannten Federkiel, und später mit der Stahlfeder, während die Sütterlinschrift senkrecht geschrieben wurde: mit einer Kugelspitz-Feder."
Lieselotte Schmidt blättert durch ihr Poesiealbum aus den 1930er-Jahren. Noch ungelenk geschrieben, haben sich da Zeitgenossen mit reimenden Versen in Sütterlin-Schrift verewigt. Problem beim Entziffern: die kantigen Höcker der Buchstaben "i", "e", "u" und "n" auseinanderzuhalten. Dass sie damit keine Probleme hat, demonstriert sie mit dem Vorlesen eines Lebenslaufes, dessen Verfasser 1894 geboren ist.
Persönlichkeit im Schriftbild war gewollt: Sie zeigte Persönlichkeit
Langgezogen und flüssig geschrieben sind die Zeilen dieses Mannes um die 40, der im Ersten Weltkrieg als Dragoner tätig war. Striche und Bögen über "i" und "u" geben Hinweise auf die richtigen Worte, nur die Anfangsbuchstaben des Ortes sind schwer zu entziffern. Persönlichkeit im Schriftbild war damals gewollt, aus der Handschrift wurden Schlüsse auf den Charakter gezogen, sagt Schmidt.
Auch der Einblick in eine verblichene Zeit ist für sie spannend. "Da ich mich, obwohl ich nicht studiert habe, doch sehr für geschichtliche Dinge interessiere, hat es mich also wirklich interessiert, wie amtliche Schreiben vor 100 Jahren abgefasst wurden, welche umständlichen Formulierungen da gebraucht wurden." Das amüsiere einen heutzutage. "Andererseits habe ich bewundert, was diese Protokollschreiber beim Notar schreiben mussten."
Amtliche Ahnentafeln, private Briefe, Grundrisse - die Lebensbereiche, aus denen die Schriftstücke stammen, die in der Sütterlin-Sprechstunde in Hannover behandelt werden, sind unterschiedlich. Aufgeben musste Schmidt bisher nur einmal. Die schlecht kopierte Zeichnung eines Architekten mit dessen vielen Spezialbegriffen war nicht zu interpretieren. Sehr berührt hat die 95-Jährige hingegen der Tagebucheintrag einer jungen Mutter mitten im Zweiten Weltkrieg. "Wie sie das ganze, junge Mutterglück über dieses wunderschöne Kind da in ihrem Tagebuch, das sie für dieses Kind geschrieben hat, ausdrückt. Also wirklich sehr zu Herzen gehend, sehr berührend."