Sir Simon Rattle: "Ich bin das Gegenteil eines Spezialisten"
Der Dirigent Sir Simon Rattle wird mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt. Im Interview mit NDR Kultur erzählt er, was ihm als Dirigent wichtig ist, welche Bedeutung der Preis für ihn hat und welchen Wunsch er sich in seinem Leben bisher noch nicht erfüllt hat.
Der Ernst von Siemens Musikpreis zählt zu den wichtigsten Preisen für Komponisten, Interpreten oder Musikwissenschaftler und ist mit 250.000 Euro dotiert. Unter anderem Benjamin Britten, Claudio Abbado oder Anne-Sophie Mutter haben ihn in den vergangenen Jahren bekommen.
Sir Simon, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum Ernst von Siemens Musikpreis!
Simon Rattle: Vielen Dank! Ich finde das phänomenal - und auch superkomisch, denn normalerweise fühle ich mich in hohen Gebäuden oder auf Berggipfeln sehr wohl, da wird mir nicht schwindelig. Doch wenn ich mir die Namen der bisherigen Preisträger ansehe, dann bekomme ich doch ein wenig Höhenangst. Es ist wirklich außerordentlich, sich diese Preisgeschichte anzusehen.
Ich habe gehört, dass der Ernst von Siemens Musikpreis für Sie eine ganz besondere Bedeutung hat - welche?
Rattle: Dieser Preis ist etwas, das die Kunstform voranbringen will. Natürlich sind viele große Komponisten unter den Preisträgern. Aber was allen Preisträgerinnen und Preisträgern gemeinsam ist, ist, dass sie sich darum kümmern, was in der Zukunft sein wird. Sie helfen mit, diese Kunstform voranzubringen. Das ist sehr bewegend für mich.
Ich bin das Gegenteil eines Spezialisten. Ich habe ein großes Spielfeld bespielt von Barockmusik bis zu Sachen, die gestern geschrieben wurden. Das sehr großzügige Preisgeld werde ich nutzen, um den Aufbau eines Originalklang-Orchesters mit historischen Instrumenten weiterzuführen, das wir innerhalb des BR Sinfonieorchesters in München gegründet haben. Zum ersten Mal überhaupt wird es eingebettet in ein Sinfonieorchester ein Originalklang-Orchester geben, mit denselben Musikern. Für alle Leute, die daran interessiert sind, diese Art von "Reise" anzutreten. Es war wichtig für mich, das Preisgeld so zu nutzen, dass ich es direkt an die Musik zurückgebe.
Am Sonntag werden Sie 70 Jahre alt. Was wünschen Sie sich zum Geburtstag? Ich vermute mal, einen neuen Konzertsaal für München?
Rattle: (lacht). Das wäre ein absolut krasses Geburtstagsgeschenk! Könnte sein, dass es etwas schwierig wird, einen Konzertsaal in Geschenkpapier einzuwickeln. Ernsthaft: Es wäre wundervoll, sich vorzustellen, dass es etwas Neues in München gibt - vor meinem nächsten runden Geburtstag. Politiker sagen gern, dass das etwas ist, dass sie voll unterstützen, natürlich werde ein Konzertsaal gebaut! Das ist die gute Nachricht. Die problematische Nachricht ist, wie lange das dann dauert. Ich werde versuchen, noch etwas mehr Dringlichkeit in diesem politischen Prozess anzumelden. Damit man versteht, dass diese unglaublich reiche Stadt jetzt einen Ort für Konzerte braucht. Ich tue mein Bestes, aber ich rechne nicht damit, dass ich an meinem Geburtstag einen Konzertsaal auswickeln darf - bedauerlicherweise.
Der bayerische Kunstminister sagt auch, mit Kulturpolitik könne man keine Wahlen gewinnen. Sie haben viel Erfahrung im Kulturbetrieb und kennen das auch, dass vonseiten der Politik Versprechen gemacht werden, aber wenn es ernst wird, sieht es oft anders aus. Wie viel Wertschätzung erfährt die Kultur zurzeit überhaupt?
Rattle: (seufzt). Ich habe meine gesamte Musikkarriere damit verbracht, mir Sätze anzuhören wie: "Dies ist gerade eine schwere Zeit, um die Künste zu fördern." Das war vor 50 Jahren genau so wahr, wie es das jetzt ist. Wir müssen immer kämpfen für unsere Sache. Allzu oft sind die Künste das Erste, wo gekürzt wird, wenn es ein Problem gibt. Ich glaube aber nicht daran, dass wir (Künstler, Anm. d. Red.) ein Luxus sind.
Sie haben einen Großteil Ihrer Karriere in Deutschland verbracht: Ein Grund dafür ist, dass es hier für Musik und Kultur paradiesische Bedingungen gibt - verglichen zum Beispiel mit England, wo die Künste nicht so subventioniert werden. Inzwischen sehen wir aber auch hier Kulturkürzungen. Was würden Sie heute jungen Menschen raten, die Musikerinnen oder Musiker werden wollen?
Rattle: Das sind gerade gefährliche Zeiten. In der Musik ist es nahezu unmöglich, mehr mit weniger zu schaffen. Es braucht Förderung! Und für Deutschland ist es eine Ruhmesgeschichte, dass Kultur als so zentral angesehen worden ist. Ich würde Politiker stets fragen, was die Musik, die Kunst für die Gesellschaft als Ganzes bewirken kann. Und sie bitten, nicht mit einer schnellen politischen Entscheidung etwas zu zerstören, dessen Aufbau so viele Jahre gebraucht hat. Aber manchmal fühlt man sich wie ein Rufer in der Wüste.
70 Jahre - das ist für einen Dirigenten kein Alter. Man denke zum Beispiel an Herbert Blomstedt, der munter auf die 100 zu geht. Sie sehen sich als "Teenager mit Knieproblemen". Welchen Wunsch haben Sie sich in Ihrem Leben bisher noch nicht erfüllt?
Rattle: Ein wunderbarer Trompeter aus dem Los Angeles Philharmonic Orchestra sagte einmal zu mir, als ich Anfang 30 war: "Simon, alle guten Dirigenten sind 60 und älter. Du bist da keine Ausnahme, also überstürze nichts!" Ich bin glücklich, einen Beruf zu haben, in dem man stets weiter wachsen kann. Dabei ist es so ein harter Beruf, dass es etwas Zeit braucht, bis man wirkliche Reife erlangt hat. In den kommenden Jahren freue ich mich einfach darauf, Musik zu machen und dieses großartige Münchner Orchester weiter auszubauen. So einfach ist das. Wir hoffen, diesen "Virus" auf möglichst viele Menschen übertragen zu können. Denn wir glauben alle fest daran, dass diese Musik das Leben der Menschen und ihre Bedürfnisse ändern kann. Das wäre mein Wunsch für jetzt!
Das Gespräch führte Philipp Cavert.