"Rot (Hunger)": Kannibalismus und der Hunger nach Liebe
In seinem gerade erschienen zweiten Roman "Rot (Hunger)" schreibt Senthuran Varatharajah über den Fall des sogenannten "Kannibalen von Rotenburg" und den unstillbaren Hunger nach Liebe.
Vor 20 Jahren verabredeten sich zwei Männer über das Internet. Der eine wünschte sich, bei lebendigem Leib gegessen zu werden, der andere, einen Menschen zu essen. Bernd Jürgen Brandes und Armin Meiwes trafen sich und setzten ihre Wünsche in die Tat um. Der Fall des "Kannibalen von Rotenburg" wurde mit Ungläubigkeit und Faszination nicht nur in die breite Öffentlichkeit getragen, sondern auch immer wieder künstlerisch bearbeitet. Es gibt einen Rammsteinsong über die Geschichte, Theater- und Filmadaptionen. In einer waghalsigen Parallelmontage autobiografischer Prosa und True-Crime-Lyrik nähert sich Senthuran Varatharajah nun schreibend dem Stoff.
Ich denke an die Dinge, die ich vergessen habe, und an die, die ich vergessen haben werde. Marlboro.
Rot. Mit der Zigarette in dieser Hand verbrenne ich
meine Haare. Ich wusste es noch nicht.
Es gibt zwei Bedeutungen von verzehren.
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)"
Autobiografische Anteile
Das "Ich" ist das Ich eines Schriftstellers namens Senthuran. Er hat sich von einer Frau getrennt, mit der ihn nicht nur eine tiefe Liebe verbindet, sondern auch der Schmerz der Vertreibung. Als Kurdin und Tamile gehören beide in ihren Heimatländern verfolgten Minderheiten an. In Berlin reißt man ihre Namen vom Klingelschild ab und pinkelt in ihren Hauseingang. Senthuran Varatharajah erzählt diese Liebesgeschichte in haptischen Erinnerungsfragmenten, der Abdruck ihres Cardigans auf seiner Haut, die Wimpern, die er sich beim Anzünden einer Zigarette verbrennt. Aus seiner neuen Rolle als Einzelner beobachtet er beim Sex mit Hien, Yael und Leila den Hunger der Körper. Gleichzeitig stellt er mit seinem durch Religionsgeschichte und Philosophie geschärften Intellekt die verbindende Kraft der Sprache in Frage.
Unsere Sprache der Liebe ist eine Sprache der Einsamkeit. Und diese Sprache erzählt nur davon: von der Trauer unserer Hände.
Meine Finger waren schwarz. Du weißt es.
I am up in the clouds/ and I can’t/ and I can’t come down.
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)"
Der Kannibale von Rotenburg
Ebenso haptisch wie fragmentarisch bahnt Varatharajah auf der zweiten Erzählebene die Tat zwischen Meiwes und Brandes an. Begegnung am Bahnhof, Fahrt zu Meiwes Haus, Betreten des Schlachtraums. Im Fall des Kannibalen von Rotenburg spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Opfer und Täter protokollierten im Chat vorher genau, was sie miteinander tun wollten. Und so zeugen die Original-Chatprotokolle, die Varatharajah für seinen Roman verwenden durfte, als Manifestation der Tat in der Sprache.
in meiner
Vorstellung liegt
der zu zerteilende Körper
auf einem
Tisch.
Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)"
Das Kannibalische am Schreiben
Das Töten und Zerteilen schildert Varatharajah mit zudringlicher Plastizität. Der kannibalischen Tat stehen Sexszenen mit Bissen und Verletzungen des Schriftsteller-"Ichs" gegenüber. Aber nicht nur die Frage, wie nah die Ausnahmetat des Kannibalen jedem begehrenden Menschen ist, bindet den Fall Meiwes auf verstörende Weise an die Geschichte Senthurans. Von Seite zu Seite wird auch das Kannibalische am Schreiben deutlich. Das Licht im Schlachtraum ist so kalt, wie das Licht des MacBooks, auf dem der Text über den Kannibalen geschrieben wird.
In an interview, Herta Müller said, it's the words that are hungry. I'm not hungry for words, but they have a hunger, they have a hunger of their own. They want to consume what I have experienced. And I have to make sure, that they do that. Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)"
"Rot (Hunger)" ist ein heftiger Text. Nicht, weil er auf die Gier nach Grausamkeit beim Leser setzt, sondern weil er sich traut, die Grausamkeit ins Visier der poetischen Sprache zu nehmen.
Rot (Hunger)
- Seitenzahl:
- 120 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- S. Fischer Verlage
- Veröffentlichungsdatum:
- 23. Februar 2022
- Bestellnummer:
- 978-3-10-397075-3
- Preis:
- 23,00 €