Cover des Buches "Mehr als ein Leben" von Milena Moser © Kein & Aber

"Mehr als ein Leben": Die schwere Last des Schuldgefühls

Stand: 20.02.2022 14:56 Uhr

In dem Roman "Mehr als ein Leben" entwirft die Autorin Milena Moser in epischer Breite gleich mehrere Geschichten um ihre Protagonistin.

von Claudia Cosmo

Helen war ganz auf ihre Mutter ausgerichtet. Vera war wie ein Schiff auf hoher See, das geradewegs auf einen Eisberg zusteuern würde, wenn Helen sie auch nur eine Minute aus den Augen ließ. Leseprobe

Helens alkoholkranke Mutter Vera ist ein großer Unsicherheitsfaktor. Tag für Tag versucht sie mit Veras Stimmungsschwankungen, Trunkenheitszuständen und dem unzuverlässigen Verhalten klar zu kommen. Längst hat sich Helen daran gewöhnt, alleine in den Kindergarten zu gehen und sich selbst etwas zu essen zu machen. Das Leben des kleinen Mädchens ist ein ständiger Balanceakt. Zumal Helens Vater die Familie verlassen hat und nur gelegentlich vorbeischaut. Alleine auf sich gestellt, fühlt sich Helen auch für ihre Mutter verantwortlich.

"Was wäre wenn?"-Konstellation als literarisches Raster

In Milena Mosers Roman "Mehr als ein Leben" geht es um das Gefühl der Schuld, der Scham und der Verantwortung, die wie eine schwere Last auf den Protagonisten liegt. Ein ganzes Leben lang.

Mosers Roman ist eine in allzu epischischer Breite erzählte Geschichte, die in der Schweiz in den 1970er-Jahren beginnt, unter anderem in den USA der 1980er-Jahre spielt und bis in die unmittelbare Gegenwart reicht. Die unterschiedlichen Zeitebenen verknüpfen Lebenswege und Entscheidungen miteinander, die sich so abgespielt haben können oder auch nicht. Die Autorin hat eine "Was wäre wenn?"-Konstellation als literarisches Raster entworfen, auf dem sich die Hauptfigur bewegt. So entwirft die Erzählstimme des Romans mehrere Geschichten rund um die Protagonistin.

Ich bin so verwirrt. Manchmal glaube ich, ich bin mehr als eine Person. Oder ich lebe mehr als ein Leben. Leseprobe

Als Helen geht sie mit ihrem Vater einen Pakt ein, damit er das Sorgerecht für sie bekommt. Als Luna geht sie in die USA und verabschiedet sich von ihrem Freund Frank, der sie als Elaine sieht.

Luna! Ich heiße Luna. Seit sie sich für das Austauschprogramm angemeldet hatte, versuchte sie, diesen neuen Namen durchzusetzen. Es schien ihr passend: Ein neues Leben, ein neuer Kontinent, ein neuer Name. Bis jetzt hielt sich niemand daran, nicht einmal Frank, der ihr sonst jeden Wunsch erfüllte. Leseprobe

Protagonistin mit verschiedenen Lebensentwürfen

Für den Leser erschließt sich Milena Mosers Erzählansatz sehr gut. Man erhält beim Lesen den Eindruck, dass jeder ihrer Lebensentwürfe für Helen machbar zu sein scheint. Da ist Luna, die in den USA auf einer Aidsstation sterbenden Patienten beisteht, bei einem schwulen Paar lebt und schwer erkrankt. Auf der anderen Seite die Lebensversion von Elaine, die eine intensive Liebesbeziehung zum Halbitaliener Frank führt, ihn heiratet, Kinder mit ihm hat, nach einem Unfall versucht, ihr Gedächtnis wieder zu erlangen und ihre Freundin dabei um Hilfe bittet.

Erwartungsvoll schaute sie Elaine an, doch die pinkfarbenen Zahlen sagten ihr nichts. 1990, nun komm schon! Da haben wir unser Geschäft gegründet. Du und ich und Frank. Die drei Musketiere. Elaine hielt inne. Sie hatte etwas erreicht, etwas geschafft, das nur wenigen gelang. Ein eigenes Geschäft! Mit zwanzig! Elaine sah sich einen Industriestaubsauger durch einen endlosen Flur schieben, der mit dunkelgrau gesprenkeltem Teppich ausgelegt war.

Es versetzte sie in ihre frühe Kindheit zurück. Auch damals hatte sie sich am sichersten gefühlt, wenn sie saubermachte. Dann löste sich diese ständige innere Unruhe vorübergehend auf. Es waren die einzigen Momente ihrer Kindheit, in denen sie das Gefühl gehabt hatte, die Kontrolle zu haben. Leseprobe

Verästelungen sorgen für zu großes Dickicht

Vermeintliche Kontrolle versucht Mosers Hauptfigur auch durch Tablettenmissbrauch und wahllose Sexabenteuer zu erlangen; auch um die intensive, aber nicht unbelastete Liebe zu Frank zu vergessen.

Frank, schrieb sie. Ich weiß nicht, wer ich bin ohne dich. Aber ich muss es herausfinden. Leseprobe

Es ist etwas schade, dass Milena Moser mit "Mehr als ein Leben" vielleicht auch mehr als einen Roman hat schreiben wollen, der mit seinen Verästelungen ein oft zu großes Dickicht thematischer Ambitioniertheit entstehen lässt. Die eigentlich atemberaubenden Szenen sind diejenigen, in denen die Autorin ihre große Stärke für psychologische Feinheiten ausbreitet, so dass dem Entsetzen, der Freude, der Angst und auch der Sprachlosigkeit ein Raum verliehen werden kann.

Mehr als ein Leben

von Milena Moser
Seitenzahl:
560 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Kein & Aber
Veröffentlichungsdatum:
22. Februar 2022
Bestellnummer:
978-3036958729
Preis:
27,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 21.02.2022 | 12:40 Uhr

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