Stand: 21.03.2017 10:00 Uhr

Erinnerung an die Zeit der Bergarbeiter

von Joachim Dicks
Martin Becker: "Marschmusik" © Luchterhand Verlag
Nach dem Erzählband "Ein schönes Leben" und dem Roman "Der Rest der Nacht" ist "Marschmusik" das dritte erzählerische Werk Martin Beckers.

Bei dem Stichwort "Marschmusik" dürfte den meisten Menschen nicht unbedingt das Herz aufgehen. Es klingt nach Militär und nach einfachen, einpeitschenden Rhythmen. Das ändert sich möglicherweise durch die Lektüre des zweiten Romans von Martin Becker. Der heißt nämlich "Marschmusik" und führt den Leser mittenhinein in die Kindheits- und Jugenderinnerungen eines Ich-Erzählers, dessen Ehrgeiz es bald wird, als berühmter Posaunist Karriere zu machen. Für den Sohn eines Bergarbeiters aus dem Ruhrgebiet ein eher ungewöhnliches Bestreben.

Ein Roman wie ein Akkord

Autor Martin Becker © Ekko von Schwichow
Klarheit und Lakonie, Witz und Ironie - kaum ein deutschsprachiger Autor versteht es derzeit, diesen rhetorischen Vierklang so kraftvoll erklingen zu lassen wie Martin Becker.

Es scheint so, als habe ein Autor seinen ganz eigenen literarischen Stil entwickelt: "Ich glaube, ich habe in den letzten zehn Jahren, seitdem ich veröffentliche, in meinen Geschichten und Erzählungen viel ausprobiert und auch mit sehr abstrakten Welten experimentiert. Es war wie eine Befreiung, als ich bemerkt habe: Wenn du konkret wirst, mit diesen sprachlichen Mitteln - Rhythmus, Wiederholung, kurze Sätze -, dann kommt etwas dabei heraus, das habe ich so noch nie geschrieben."

Gebaut ist der Roman wie ein dreibündiger Zopf. Oder wie ein Akkord. Im Wechsel mal in Dur, mal in Moll, manchmal erklingt noch aus der Ferne die Septime, um die Spannung zu erhöhen. Auf der ersten Ebene erzählt der Ich-Erzähler von einem Besuch bei seiner Mutter, die nach dem Tod des Vaters nunmehr alleine lebt in dem Haus, in dem früher die fünfköpfige Familie lebte:

Jetzt sind es noch wenige Meter zu Fuß. Ich könnte trödeln, aber es hilft ja nichts. Diesmal wird es nicht so schlimm, sage ich mir, während ich aus dem Linienbus steige. Ist ja nicht für lange. Unzählige Töchter und Söhne besuchen gerade ihre Familien. Oder das, was noch davon übrig ist. An Orten, die sie Heimat nennen. Leseprobe

Eine besondere Tonart

Auf der zweiten Ebene des Romans entwickelt sich der Besuch des Elternhauses zu einem Katalysator der Erinnerung an die eigene Kindheit, als da wären die verschütteten Träume und überlagerten Ängste des Jungen, der in seiner kindlichen Begeisterungsfähigkeit ein weltberühmter Posaunist werden wollte.

Die Stille vor dem ersten Ton. Eine Schützenhalle. Das große Konzert des Musikzugs. Mehrere hundert Leute sitzen auf ihren Stühlen, schauen mich an. Solo für Posaune und Blasorchester. Volkstümliche Fantasie über ein Motiv von Wolfgang Amadeus Mozart. Die Luft ist trocken. Im Publikum hustet jemand. Ich schwitze. Der erste Ton ist alles. Auf ihn kommt es an. Der Dirigent hebt den Stock. Das Orchester setzt ein. Ich konzentriere mich. Es ist mein erstes Solo. Es bleibt mein einziges Solo. Leseprobe

Klarheit und Lakonie, Witz und Ironie - kaum ein deutschsprachiger Autor versteht es derzeit, diesen rhetorischen Vierklang so kraftvoll erklingen zu lassen wie Martin Becker. Für den dritten Handlungsstrang, in dem er die Lebensgeschichte des Vaters rekonstruiert, schlägt er wieder einen anderen Ton an. Klar, das Leben unter Tage, die Haut schwarz vor Kohlenstaub, verlangt auch für die Sprache nach einem anderen Rhythmus. Jupp, so heißt er, der Vater:

Jupp schläft. Er wälzt sich hin und her. In einer Dreiviertelstunde muss er aufstehen. - Sein älterer Bruder hatte ihn gewarnt. Halbherzig und mehr schlecht als recht, aber immerhin. Er hatte es zumindest versucht, indem er erzählte, wie es da unten läuft. Im Abbau hast du dreißig Grad, hatte er gesagt, manchmal mehr, musst du aushalten. Gewöhnst du dich zwar dran, aber musst du aushalten. Und manchmal, je nach Wetterlage, ist es arschkalt. Stell dir vor, du kommst aus der prallen Sonne und am Schacht schlottern dir die Knie vor Kälte. Erkältest dich schneller als in Sibirien. Leseprobe

Erinnerungsmaschine für eine vergangene Zeit

Durch die Vatergeschichte liest sich "Marschmusik" auch als ein Schwanengesang auf eine untergegangene Epoche. Das letzte Jahrhundert der Bergarbeiter, ein letzter Seufzer: "Germinal". Und dann ist "Marschmusik" auch eine Erinnerungsmaschine. Denn wer sich auf den Roman von Martin Becker einlässt, hat bald auch die eigene Lebensgeschichte klar vor Augen: in aller Heiterkeit und Melancholie.

Programmtipp

Am 23. März ist Martin Becker einer von drei Gästen in der Sendung "BücherLeben - Extra" von der Leipziger Buchmesse, eine Stunde zum Thema "Zukunft heißt Herkunft - Blick zurück nach vorn mit Martin Becker, Lena Gorelik und Marie Rotkopf", ab 13 Uhr auf NDR Kultur.

Marschmusik

von Martin Becker
Seitenzahl:
288 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Luchterhand
Bestellnummer:
978-3-630-87510-1
Preis:
18,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 22.03.2017 | 12:40 Uhr

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Romane

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