Irmgard Keuns "Nach Mitternacht": Ein gefühliger Roman

Stand: 07.02.2022 00:00 Uhr

Irmgard Keun war zu Beginn der 30er-Jahre eine literarische Sensation. Ihre Romane "Gilgi, eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" waren Bestseller. Nun ist ihr Roman "Nach Mitternacht" neu aufgelegt worden.

von Danny Marques Marcalo

Es gibt so erste Sätze in Romanen, die stecken so voller Poesie, die erzählen für sich schon eine wunderbare Geschichte, dass man nach dem Satz erst einmal stoppen muss. Um die Worte zu genießen.

Einen Briefumschlag macht man auf und zieht etwas heraus, das beißt oder sticht, obwohl es kein Tier ist. Leseprobe

Dieser Brief ist an die 19-jährige Sanna adressiert. Verschickt von ihrem Geliebten, ihrem Cousin Franz. Es ist 1936. Deutschland scheint berauscht von der Droge "Hitler". Nur Sanna kann damit nichts anfangen. Sie und ihre lebenslustigen Freunde blicken verwundert auf die Steife und Kälte der Nazis und ihrer Anhänger.

Zwei ältere Damen kamen herein, (…) Sie bestellten Kaffee und Apfeltorte mit Sahne. Als sie anfingen wollten zu essen, wurde im Radio das Horst-Wessel-Lied gespielt, die alten Fräuleins ließen ihre Löffel fallen, standen auf, reckten die Arme. Das muss man, weil man nie weiß, wer einen beobachtet und anzeigt. Leseprobe

Irmgard Keun: Mit 20 Jahren schon Bestsellerautorin

Irmgard Keun ist selbst so eine junge Frau, die kaum verstehen kann, was unter den Nazis aus dem Land wird, das kurz zuvor noch wild die goldenen Zwanziger feiert. Geboren 1905 in Berlin, wird sie mit Mitte zwanzig zur Bestsellerautorin. Alfred Döblin gilt als einer ihrer Förderer. Als die Nazis die Macht ergreifen, verbieten sie ihre Romane. Ihre Ehe mit dem Publizisten Johannes Tralow scheitert wegen ihrer politischen Einstellung.

"Johannes Tralow hat sich von ihr scheiden lassen, im Namen des deutschen Volkes, weil er ja mit einer nicht-Nazikonformen Frau verheiratet war. Die gegen das Regime geschrieben hat. Mit sowas kann man nicht verheiratet sein", sagt Irmgard Keuns Tochter Martina 2011 in einem Interview mit der Frankfurter Buchmesse.

Klare Sprache mit leisem Witz

In Frankfurt spielt auch der Roman "Nach Mitternacht" hauptsächlich. Es ist ein wunderschön geschriebenes Buch. Mit klarer Sprache, einem leisen Witz, voller ironischer Spitzen gegen die Nazis. Im Freundeskreis von Sanna muss sich ihr Halbbruder Algin, ein Schriftsteller, Klartext anhören.

Durch die Diktatur ist Deutschland ein vollkommenes Land geworden. (…) Ein vollkommenes Land braucht keine Schriftsteller. Im Paradies gibt es keine Literatur. (…) Wo keine Kritik mehr möglich ist, hast du zu schweigen. Was willst du im Paradies über Gott schreiben? Leseprobe

Mit jeder Seite das Gefühl einer sich zuziehenden Schlinge

Das Buch erzählt Sannas Geschichte. Vom Dorf geht sie nach Köln, lernt Franz kennen und lieben. Flüchtet vor seiner irren Mutter nach Frankfurt. Lebt dort unter Bohemiens, kleinen Verlierern und Schwindlern. Irmgard Keun selbst kennt, ihrer Tochter nach, jede Kölner Kneipe. Sie ist, wie Sanna im Buch, eine lebenshungrige Frau. Mit exzellenten Kontakten. Im Exil hat sie eine Beziehung mit Joseph Roth. Ihre Arbeit wird von Größen wie Kurt Tucholsky und Klaus Mann sehr geschätzt.

(…) ich habe tausendmal lieber eine große Stadt. Man darf so was ja nicht sagen heutzutage, wegen der Weltanschauung und der Regierung. Es ist nicht gut und edel, eine Stadt lieber zu haben und schöner zu finden. Leseprobe

Im Buch geht nach und nach die Lebensfreude der jungen Menschen verloren. Sannas Geliebter Franz muss flüchten, als er einen Denunzianten umbringt. Im Buch wie in der Realität gilt: Ein freies Leben ist Mitte der 30er-Jahre in Deutschland unmöglich. Irmgard Keun kehrt im Krieg aus dem Exil, unter falschem Namen, nach Deutschland zurück. Große Bestseller schreibt sie nie wieder. 1982 stirbt sie in Köln. "Nach Mitternacht“ ist vor allem ein gefühliger Roman, die Handlung ist überschaubar. Als Leser bekommt man mit jeder Seite das Gefühl einer sich zuziehenden Schlinge.

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