"Hunger": Knut Hamsun über eine quälende Erfahrung
Mit seinem Debütroman "Hunger" und einem markanten ersten Satz erlangte Knut Hamsun Weltruhm. 1920 erhielt er den Literaturnobelpreis. Später begeisterte er sich jedoch für die Nationalsozialisten.
Es gibt Bücher, die schon mit ihrem ersten Satz faszinieren und eine unverwechselbare Melodie anstimmen: "Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist ..."
"Hunger": Hochberühmt und heftig umstritten
Knut Hamsuns Roman "Hunger" von 1890 war das Debütwerk des Schriftstellers, der damit schlagartig bekannt wurde und dessen Ruhm sich rasch in aller Welt verbreitete. Als dieser Ruhm seinen Höhepunkt erreicht hatte und Hamsun 1920 den Nobelpreis für Literatur erhielt, schrieb sein Bewunderer Alfred Polgar: "Alle, die am Leben kranken, lieben Hamsun, den Dichter der Traurigen, der Wehrlosen und Überempfindlichen, der ohnmächtigen Schwärmer und ohnmächtigen Verzweifler, der Willensskrupel und der Einsamen, der Frauen und der Juden."
Das war eine zutreffende Diagnose, auch wenn der Schriftsteller, dem sie galt, noch für eine tragische Pointe sorgen sollte. 1933 musste die Weltöffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass sich der inzwischen 74-jährige Dichter einschränkungslos für Hitler und seinen norwegischen Gefolgsmann, den Major Quisling, ausgesprochen hatte. Dabei blieb es auch nach der Besetzung Norwegens durch die Nationalsozialisten. Nach dem Krieg wurde der alte Mann vor Gericht gestellt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Er starb 1952 im Alter von zweiundneunzig Jahren, hochberühmt und heftig umstritten, ein Gigant der Literatur "auf überwachsenen Pfaden" - so der Titel seines letzten Buches. Der "Fall Hamsun" hat die literarische Öffentlichkeit, aber nicht nur sie, lange beschäftigt und beunruhigt, denn der politische Sündenfall konnte das Werk nicht relativieren und schon gar nicht vergessen machen. So bleibt Hamsun, wie Ezra Pound und Louis-Ferdinand Céline, ein Mahnmal in der Literaturgeschichte für die Verirrungen des Genies.
Erfahrung des Hungers ist autobiographisch
Sein erster Roman, den er in gewisser Weise nicht mehr überboten hat, handelt von der Erfahrung des Hungers - eine Erfahrung, die er am eigenen Leib gemacht hatte, in der Stadt, die damals noch nicht Oslo, sondern Kristiania hieß. Freilich ist das Autobiographische stark stilisiert und literarisch transponiert. Das Buch wird aus der Perspektive eines jungen Mannes erzählt, der in Norwegens Hauptstadt in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts auf der sozial tiefsten Stufe dahinvegetiert. Vergeblich versucht er, die von ihm verfassten Zeitungsartikel in verschiedenen Redaktionen unterzubringen, seine finanziellen Reserven sind längst erschöpft, aber in verbissener Selbstachtung lehnt er fremde Hilfe ab, so dass er immer mehr in eine körperliche und seelische Notlage gerät.
Die Beschreibung des Hungers und des nackten Existenzkampfes, die ungemein einprägsame Wirklichkeitsschilderung lässt einen Schriftsteller des Naturalismus vermuten. Doch nicht die soziale Komponente des Hungers steht im Vordergrund, sondern es sind seine psychischen Auswirkungen, die Ekstase, die Gewalt der Fieberphantasie, die Spannung zwischen dem verfallenden Körper und der sich leidenschaftlich zur Wehr setzenden Seele, die Hamsun zu erfassen sucht.
Hamsun schreibt im "Sekundenstil"
Das durch den Hunger ebenso geschwächte wie gesteigerte Wahrnehmungsvermögen führt den Ich-Erzähler zu quälenden Selbstreflexionen, die minutiös beschrieben werden. Die Beschreibung bestimmter Prozesse nimmt mehr Zeit in Anspruch als diese Prozesse selber, so dass die Erzählzeit länger dauert als die sogenannte erzählte Zeit. Man hat deswegen von Hamsuns "Sekundenstil" gesprochen. Er erzählt nicht breit hinrollend, sondern sparsam, karg, andeutend, als sollte das Wichtigste ungesagt bleiben. So öffnet der Roman gleich mehrere Türen in die literarische Zukunft - zum Impressionismus, zum Surrealismus, in die Moderne.