"Ein Halstuch voller Lügen": Kinderbuch über das Aufwachsen in der DDR
"Ein Halstuch voller Lügen" ist ein guter literarischer Einstieg für Kinder ab zehn Jahren in die komplexe DDR-Geschichte, die heute viel zu oft vereinnahmt oder vereinfacht wird.
Sanne ist unglücklich. Die Zwölfjährige hat mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder Hals über Kopf ihre Heimatstadt in Thüringen verlassen und ist nach Ostberlin gezogen. Es ist Mitte der 1980er-Jahre und die Hauptstadt der DDR präsentiert sich dem Mädchen grau, verregnet und voller Hundehaufen. Eine Bleibe hat die Familie noch nicht, weshalb Sannes Mutter kurzerhand eine leerstehende Wohnung besetzen will:
Doch vorher muss sie noch das Schloss aufbohren, denn die Wohnung ist abgeschlossen, und eigentlich gehört sie uns nicht. Eine Wohnung besetzen, nennt man das. Mutti sagt, in Berlin ist das nichts Besonderes. Wenn eine Wohnung ein paar Monate leer gestanden hat, bricht man einfach die Tür auf, wechselt das Schloss aus und zieht ein. Leseprobe
Das Leben in einer Diktatur - kindgerecht beschrieben
Tatsächlich geht alles gut, aber Sanne steht vor weiteren Problemen. Sie muss in eine neue Klasse und hat Angst vor Ausgrenzung. Denn sie ist eines der ganz wenigen Kinder, das nicht bei den Pionieren mitmacht:
Mutti wollte das nicht, obwohl ich tagelang geweint habe, als alle anderen in der ersten Klasse auf einer festlichen Veranstaltung ihr Pionierhalstuch und ihren hellblauen Pionierausweis erhielten und ich als Einzige nicht mit dabei sein durfte. Leseprobe
So gut wie alle Kinder in der DDR waren in den 1980er-Jahren in der Pionierorganisation. Wer sich weigerte, musste mit Schikanen rechnen. Annette Herzog zeigt, ohne zu übertreiben, in welchen Zwiespalt ihre Protagonistin Sanne deshalb gerät. Überhaupt schafft es die Autorin, in ihrer kindgerechten und unterhaltsamen Sprache, das komplizierte Leben in einer Diktatur zu beschreiben, ohne in Extreme zu verfallen. Allerdings wären Anmerkungen oder ein Glossar mit wichtigen Begriffen für Kinder, die nicht viel über die DDR wissen, hilfreich gewesen.
Sanne versucht ihre Probleme, ähnlich wie ihre Mutter, auf unkonventionelle Art zu lösen. Sie behauptet einfach, Pioniermitglied zu sein. Ein Halstuch hat sie schon. Und das kam so:
Das war in meiner letzten Schule. Ich hatte meinen Sportbeutel im Umkleideraum liegen lassen, und als ich ihn holen wollte, hing an einem Haken ein vergessenes rotes Pionierhalstuch. Ich stand davor, und mein Herz hat geklopft, und dann habe ich es einfach genommen. Leseprobe
Natürlich bleibt diese Lüge nicht ohne Folgen.
Annette Herzog gelingt es, differenziert zu bleiben
Annette Herzog greift dann noch ein paar klassische DDR-Themen auf, die leider in keinem Buch über das Land fehlen dürfen: Stasi und Ausreiseanträge. Und ja, selbstverständlich gehörten die zum Alltag der Menschen. Aber sie waren längst nicht so bestimmend und allgegenwärtig, wie heute oft behauptet. Und vor allem dienen sie in Büchern und Filmen leider oft einer billigen Dramatisierung der Story.
Für dieses Buch wären sie gar nicht zwingend nötig gewesen, aber glücklicherweise gelingt es der Autorin auch hier ganz gut, differenziert zu bleiben. "Ein Halstuch voller Lügen" ist ein guter literarischer Einstieg für Kinder in die komplexe DDR-Geschichte, die heute viel zu oft vereinnahmt oder vereinfacht wird.
Ein Halstuch voller Lügen
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Kinderbuch
- Zusatzinfo:
- ab 10 Jahren
- Verlag:
- Magellan
- Bestellnummer:
- 978-3-7348-4108-8
- Preis:
- 15 €