Coming-Of-Age-Geschichte ohne Sicherungsseil
Als Tobi Lakmaker seinen autobiografischen Debütroman schreibt, heißt er noch Sofie Lakmaker. Mittlerweile lebt er als Mann und ist in seiner niederländischen Heimat ein literarischer Shootingstar.
Es gibt Bücher, deren Sound den direkten Weg ins Herz nehmen. "Die Geschichte meiner Sexualität" ist genau so ein Buch. Tobi Lakmaker schreibt lakonisch und bis zur Selbstverletzung ehrlich. Und wenn es anfängt wehzutun, geht er noch einen Schritt weiter. Das mag vielleicht nicht zwingend wie eine Leseempfehlung klingen - ist es aber unbedingt. Denn der Roman ist eben trotz allem sehr lustig und tiefgründig.
Es geht um die Ich-Erzählerin Sofie aus Amsterdam. Die will es mit siebzehn endlich hinter sich haben und plant ihre Entjungferung.
Warum ich unbedingt entjungfert werden wollte? Ich wollte meine S.E. hinter mir haben. Meine S.E. - das war meine solide Entjungferung. Ich schwänzte den Unterricht oft mit Milan (...), und unser Gespräch kreiste immer nur um unsere zukünftige S.E... Leseprobe
Lakmaker beschreibt den Kampf mit den Erwartungen
Die "S.E." geschieht dann mit dem neun Jahre älteren Walter, mit dem sich Sofie, so ihre eigenen Worte, nicht länger aufgehalten hat. Abgelöst wird er von "Lusche D.", den Sofie so nennt, weil er Jahre später ein sehr schlechtes Buch über sie geschrieben hat.
Schon in dieser Zeit kämpft Sofie damit, was von Frauen erwartet wird. Wie sie sich geben - und vor allem - aussehen sollen.
Am liebsten lief ich den ganzen Tag in meinem Trainingsanzug von Real Madrid rum. Nur kamen dann immer wieder diese Abende, mit Menschen, mit Blicken, mit Bier, und sie riefen: Wir wollen was fürs Auge! Dann gehorchte ich. Ich zog eine Hose an, die am Hintern gut saß, trug Foundation auf, so dass meine Haut perfekt schien und glättete mein Haar. Ohne geglättetes Haar war ich, wenn ihr mich fragt, wenig bis nichts wert. Leseprobe
Egozentrik und Depressionen
Nach der Trennung von Lusche D. zieht sich Sofie zurück. Sie lebt in ihrem "eigenen Echo". Sie hört und sieht nur sich selbst, hat ständig Angst, empfindet Finsternis. Und beginnt sich in Frauen zu verlieben. Aber auch das ist schwierig. Sie kann keine Nähe zulassen, keine wirkliche Bindung eingehen.
Es ging immer nur um mich, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, schien es mir manchmal naheliegender, in die Amstel zu springen. Der Amstel bin ich egal, die hat keine Freundinnen, denen sie was weitertratschen kann, keine nächste Partnerin, mit der es viel leichter geht. (...) Ich habe es nie so sagen können, denn sonst ist glasklar, was man ist: völlig durchgeknallt. Leseprobe
Ein Buch wie ein wahnsinnig wilder Song
Tobi Lakmaker beschreibt in seinem Buch, die Suche eines jungen Menschen nach sich selbst, nach Identität und Zugehörigkeit. Natürlich ist das exemplarisch für eine Coming-Of-Age-Geschichte, aber der Autor erzählt so mutig und ohne Sicherungsseil, das ist schon etwas ganz Besonderes. Sofie studiert mittlerweile. Erst Russisch und später Philosophie. Und sie beginnt zu schreiben. Später findet sich auch ein Verlag.
Sie wollen immer, dass du einen Roman schreibst. So was zeugt von einem Mangel an Originalität, finde ich. Deshalb ging ich einfach nicht ran, wenn meine Lektorin mal wieder anrief. Nach einer Weile fing sie an, ihre Rufnummer zu unterdrücken, aber dann weiß man natürlich gleich, wer es ist. Die Leute im Verlagswesen sind wirklich nicht die Hellsten. Leseprobe
"Die Geschichte meiner Sexualität" ist wie ein wahnsinnig wilder Song als Buch. Tobi Lakmaker erzählt nicht chronologisch oder überhaupt logisch. Und das ist, so schreibt er, auch genau so gewollt. Denn von logisch und einleuchtend hält er nicht viel. Es ist eine Reise mit Umwegen und Abstechern. Gut, dass er sie gemacht hat.
Die Geschichte meiner Sexualität
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Piper Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 27. Januar 2022
- Bestellnummer:
- 978-3492071420
- Preis:
- 20,00 €