"Der Erinnerungsfälscher": Ein lebensbejahender Roman
Für seine Romane wie "Ohrfeige" oder zuletzt "Palast der Miserablen" wurde Abbas Khider vielfach ausgezeichnet. Jetzt ist sein neuer Roman unter dem Titel "Der Erinnerungsfälscher" erschienen.
Ob im Supermarkt oder in der Kneipe, seinen Reisepass hat Said Al-Wahid immer bei sich. Auch als der Schriftsteller, der mit seiner deutschen Frau und dem kleinen Sohn in Berlin lebt, nach einer Lesung in Mainz erfährt, dass seine Mutter in Bagdad im Sterben liegt.
Said war bewusst, dass der Moment nahte, in dem der Tod, der alte, unerwünschte Gast, auf der Türschwelle stehen würde. Mit dem Vater und der Schwester wird die Mutter bald vereint sein. Im Himmel ist die Familie vollständiger als auf Erden. Leseprobe
Als Saddam Hussein Ende der 70er Jahre an die Macht kam, wurde Saids Vater getötet. Jahre später, als der Irak schon "bärtig und verschleiert" geworden ist, wie es im Buch heißt, kommen Saids Schwester und ihre Familie bei einem Bombenattentat ums Leben.
Erinnerungen an Stationen der Flucht
Als der in Berlin lebende Schriftsteller sich nun - nach vielen Jahren im deutschen Exil - erneut auf den Weg nach Bagdad macht, erinnert er sich an Stationen seiner Flucht - über Jordanien, Libyen und Griechenland, bis er schließlich in München landet, wo er die "deutsche Sprache mit ihren Millionen Ausnahmeregelungen lernt" und studiert.
Er erzählt von zermürbenden Kämpfen um eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, von alltäglichem Rassismus in Behörden, in der Kneipe oder am Flughafen, wo er - mit seinem langen Haar und der "schattigen Hautfarbe" bei den Grenzbeamten alle Alarmsignale auslöst.
Er könnte Drogenbaron oder Dschihadist sein - ein Typ wie aus einem Hollywoodfilm. Ein Mann mit einem arabischen Namen in einem deutschen Reisepass noch dazu. Das ist zu viel für die Wahrnehmungsorgane der deutschen Gesetzeshüter. Leseprobe
Das ganze Leben ein einziges Trauma?
Vom Leben in der Fremde erzählt Abbas Khider in "Der Erinnerungsfälscher", aber auch von der Genese eines Autors. Denn Said möchte Schriftsteller werden. Doch das Erinnern erschöpft ihn, ihm fehlen die Zusammenhänge, weil ganze Zeiträume für immer verschwunden sind. Als Said einen Arzt aufsucht, empfiehlt der ihm eine Psychotherapie im Behandlungszentrum für Folteropfer.
Typisch, dachte Said. Wenn ein Migrant mit etwas kommt, das man in Deutschland nicht begreift, nennt man es "Trauma". Was soll man tun, wenn das ganze Leben ein einziges Trauma ist? Soll man das Leben in ein "Behandlungszentrum für Folteropfer" schicken? Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und erträglich sein - wenn man diese Orte meidet." Leseprobe
Erinnerungen selbst erschaffen
Anstatt sich in Therapie zu begeben, findet Said im Internet den Begriff "Erinnerungsverfälschung" und beschließt, das Fehlende einfach zu erfinden.
Zunehmend macht es ihm sogar Spaß, vergesslich zu sein. Gäbe es Pillen gegen Erinnerungsverfälschung, Said würde sie nicht einnehmen. Wovon sollten sie ihn heilen? Davon, dass er kein Heimweh und keine Sehnsüchte hat? Oder davon, dass er die Fähigkeit besitzt, die Welt nach Lust und Laune in neue Wirklichkeiten zu verwandeln? Leseprobe
Wunderbar intensiver und ergreifender Roman
Abbas Khider gelingt in diesem schmalen Buch das Kunststück spürbar werden zu lassen, wie tief Krieg, Folter und Verlust einen Menschen prägen und wie absurd und lustig das Leben trotz allem oder gerade deshalb sein kann. Etwa, wenn Said in einer Neuköllner Kneipe einkehrt, sich gleich darauf ein Typ zu ihm an den Tisch setzt und eine haarsträubend fremdenfeindliche Diskussion über Asylbewerber und Abschiebung anfängt.
Als Said entnervt das Lokal verlässt, läuft der andere ihm wenig später hinterher, nur um vom Wirt auszurichten, dass der es schön fände, wenn der neue Gast bald einmal wieder käme. Abbas Khiders "Der Erinnerungsfälscher" ist ein wunderbar intensiver und auf vielen Ebenen ergreifender und trotz oder wegen all dem Schmerz, der sich wie ein Grundton durch den Text zieht, ein zutiefst lebensbejahender und tröstlicher Roman.
Der Erinnerungsfälscher
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Carl Hanser Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 24. Januar 2022
- Bestellnummer:
- 978-3446272743
- Preis:
- 19,00 €