Jacques der Fatalist und sein Herr
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Denis Diderots "Jacques der Fatalist und sein Herr".
Von Hanjo Kesting
Denis Diderot, der Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung, zählt zu den großen Autoren des achtzehnten Jahrhunderts und zu den Wegbereitern der Französischen Revolution, wie seine berühmten Zeitgenossen Voltaire und Rousseau. Diese beiden mögen zu ihrer Zeit größere Wirkung gehabt haben, doch von heute aus ist Diderot der interessanteste Geist seiner Epoche. Er war der Herausgeber der berühmten Enzyklopädie und hatte fast zu viele Talente und Begabungen. Nur eine Begabung fehlte ihm: seine Talente nicht zu verschleudern. Die Lässigkeit, mit der er seinen literarischen Nachlass einer ungewissen Zukunft überließ, müsste bestürzen, wäre sie nicht zugleich ein Zeichen verschwenderischer Fülle.
In diesem Nachlass fand man auch eines der originellsten Bücher der Weltliteratur, den Roman Jacques der Fatalist, und sein Herr. Nur Auszüge daraus wurden zu Diderots Lebzeiten in der "Literarischen Korrespondenz" des Barons Grimm veröffentlicht, einem informellen Organ für die Insider der Aufklärung. Goethe und Schiller hatten Zugang zu diesen Manuskripten und nutzten sie für ihre Zwecke; Schiller, indem er eine eingeschobene Novelle, "Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache", übersetzte.
Das Problem der Willensfreiheit
Der Roman ist eine scharfsinnige Studie über das Problem von Herr und Knecht, bedeutungsvoll für Hegel wie für Marx. Jacques und sein adliger Herr diskutieren bei jeder sich bietenden Gelegenheit über das Problem der Willensfreiheit. Paradoxerweise ist der weltgewandte, tatkräftige und vorwitzige Jacques Anhänger eines stoischen Fatalismus und betont bei allem, was passiert, es habe in der großen himmlischen Schicksalsrolle gestanden, während sich sein langweiliger und schläfriger Herr zur Freiheit des Willens bekennt, ohne im Leben von ihr Gebrauch zu machen. Diderot wählt wie in den meisten seiner Werke die offene Form des Dialogs, wobei die Gespräche immer wieder vom Erzähler unterbrochen werden, der sich mit Kommentaren, Reflexionen und erzähltechnischen Überlegungen zu Wort meldet. Statt Meinungen zu postulieren, wendet er sie im dialektischen Spiel hin und her, entfaltet sie in Wirkung und Gegenwirkung, gemäß der Einsicht, dass kein Gedanke gedacht werden kann, der nicht auch die Möglichkeit seines Gegenteils enthält. So sind die Gespräche zwischen Jacques und seinem Herrn wahre Komödien des Geistes, die unterhalten, indem sie belehren, und umgekehrt.
Veröffentlichung nach Diderots Tod
Der Roman entstand zwischen 1773 und 1775, erschien aber erst ein gutes Jahrzehnt nach Diderots Tod. Eine reguläre Veröffentlichung zu Lebzeiten hätte die Zensur auf den Plan gerufen, denn kaum eine der damals gültigen Wahrheiten blieb in dem Buch unerörtert und unangefochten. Da Diderot aufgrund einer früheren Schrift schon einmal im Gefängnis gesessen hatte, hielt er sich an die Einsicht, dass der Mut eines Schriftstellers sich nicht in selbstmörderischer Kühnheit beweist, sondern in der Stetigkeit, mit der er seine Ideen verfolgt. Und Diderot hatte die "Enzyklopädie" vor Augen, die die geistige Landschaft Frankreichs, ja ganz Europas veränderte. Sie enthielt das gesamte Wissen der Zeit, ohne dem Spezialistentum zu verfallen. So wurde sie zum vorwegnehmenden Hauptbuch der Französischen Revolution.
Als "Jacques der Fatalist und sein Herr" erschien, hatte die Revolution ihren Höhepunkt bereits überschritten. Auch dieser Roman ist ein großartiges Zeugnis für Diderots Denkweise, die man den "bezaubernden Materialismus" genannt hat, "le materialisme enchanté". Tatsächlich knistert es in seinem Buch vor Lebensfreude und Erkenntnislust. Bei Diderot gehört beides immer zusammen. Für ihn, der allen Wunderglauben bekämpfte, lag das Wunderbare im Leben selber. Er schrieb: "Das Wunder: das ist das Leben und die Fähigkeit, zu empfinden." Auch "Jacques der Fatalist und sein Herr" ist ein Wunderbuch, doch fehlt es leider hier an Zeit, das Wunder weiter auszumalen. Nur Goethes Wort über Diderots Roman darf nicht fehlen: er sei eine "sehr köstliche und große Mahlzeit, mit großem Verstand zugericht’ und aufgetischt".