Buch-Cover: Philip Arneill - Tokyo Jazz Joints © Kehrer Verlag

Bildschöne Bücher: "Tokyo Jazz Joints" - Orte der Einkehr

Stand: 03.09.2023 06:00 Uhr

Acht Jahre lang war der nordirische Fotograf Philip Arneill in Japan unterwegs und hat nach "Jazu Kissa" Ausschau gehalten - nicht leicht zu findende Jazz-Cafés und -Kneipen, in denen die Zeit stillsteht.

von Martin Tschechne

Man steigt eine Treppe hinab und landet in einer anderen Zeit. Man betritt einen Fahrstuhl und fährt ein paar Etagen hinauf, klopft an eine Wohnungstür und betritt eine Welt, in der es um nichts anderes geht als um die Musik. Um Jazz - vorzugsweise solchen der 50er- und 60er-Jahre: Charlie Parker, John Coltrane, Miles Davis; Bebop, Hard Bop, Modern Jazz, bisweilen auch Free Jazz, Ornette Coleman, Albert Ayler. Die Art von Musik also, die vielleicht ein bisschen Kenntnis erfordert, zumindest einen entspannten und leidlich geschulten Geschmack, die ihre Hörer dafür aber reich und zuverlässig belohnt.

"Jazu Kissa" heißen diese Orte, Jazz-Cafés, von denen es in Japan hunderte gibt, aber wohl kein einziges, das leicht zu finden wäre. Acht Jahre lang war der nordirische Fotograf Philip Arneill unterwegs zwischen Hakodate im Norden und Fukuoka im Süden, in Osaka, Kanazawa, Kyoto und im Häusermeer der Metropole Tokyo. Insofern ist der Titel seiner Sammlung, "Tokyo Jazz Joints", ein bisschen eng gewählt. Was er überall im Land fand - irgendwo in der Vorstadt, irgendwo am Ende einer schmalen Treppe, in einem Wohnzimmer der sechsten Etage -, waren Orte des Rückzugs und der Konzentration. Und obwohl es um die wohl entschieden westlichste aller Musikformen geht, eben den amerikanischen Jazz, ist den Bildern zugleich so etwas wie fernöstliche Stille eingeschrieben: eine schäbige Eingangstür, eine Wand voller Schallplatten, verblichene Konzertkarten von Oscar Peterson oder McCoy Tyner - Erinnerungsstücke. In einem Bilderrahmen das Cover von "Waltz for Debby", signiert von Bill Evans persönlich - ein Heiligtum.

Kaffee, Whisky - und sonst nichts als die Musik

Was diese Jazu Kissa bieten, ist eine oft tausende von Schallplatten umfassende Sammlung, fast immer übrigens aus Vinyl, eine Musikanlage von oft herausragender Qualität und die Kennerschaft eines Gastgebers, der seine Schätze seit 50, 60 und manchmal mehr Jahren behutsam und sensibel zu Gehör bringt. Was sie fordern, ist Respekt und Schweigen - fast wie in einem Kloster des Zen. Es gibt eine Tasse Kaffee oder ein Glas Whisky und sonst nichts als die Musik. Jedes Gespräch, das über das unvermeidbare Maß hinausgeht, ist unerwünscht. Umsatz? Wer so ein Café betritt, der fragt sich, wovon die Betreiber ihre Miete bezahlen.

"Coltrane, Coltrane" heißt einer dieser verschwiegenen Orte in Tosu auf der Insel Kyushu, und das alt gewordene Ehepaar hinter dem Tresen hat Jahrzehnte darauf verwendet, aber auch jede noch so seltene Aufnahme des Saxophonisten irgendwo aufzutreiben.

Das "Downbeat", das "Mingus", das "Ragtime": Sie alle erzählen solche Geschichten. Es sind die Geschichten einer alten und völlig unverhofften Liebe - und sicher steckt eine Botschaft dahinter, wenn das "Dug" seinen Namen irgendwann in die Vergangenheitsform geändert hat. Ursprünglich nämlich hieß das in einem Kellergewölbe gleich neben dem gigantischen Shinjuku-Bahnhof in Tokyo versteckte Jazu Kissa einmal "Dig", englisch für "graben", aber im Szene-Jargon der 60-Jahre stand das Wort für "kapieren" oder "drauf stehen". Und, klar: Wer den Jazz damals kapiert hatte, der stand drauf.

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Omar Sosa blickt lachend in die Kamera. © Omar Sosa

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Die alternativlose Liebe zur Jazz-Musik

Und heute in der Vergangenheitsform? Noch immer findet Jazz in Japan ein breites Publikum, vermutlich breiter als in vielen anderen Ländern. Vermutlich auch kenntnisreicher. Selbst im Supermarkt begleitet Jazz-Musik die Kaufentscheidungen der Konsumenten. Und welche Kultur hat ihrerseits die reisenden Botschafter des Jazz aus den USA in ähnlicher Weise fasziniert wie die japanische? Dave Brubeck, Horace Silver oder Thelonious Monk.

Man könnte das an den Bildern von Philip Arneill kritisieren. Sie sind schön und stimmungsvoll, aber sie erzählen nur einen Teil der Geschichte. Man könnte kritisieren, dass der nikotingelbe Sepiaton der Aufnahmen ein bisschen gar zu nostalgisch auf das Vergangene und Vergängliche dieser Orte hinweist. Vielleicht auch wäre es aufschlussreich gewesen, noch ein paar dieser Menschen zu sehen, die ihr halbes Leben und mehr mit ihrer Obsession zugebracht haben - einer offenkundig tief empfundenen, alternativlosen Liebe zu einer Musik, die ihnen über das Schicksal ihres Landes zugefallen war: die tiefe Demütigung Japans durch die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg, die Zeit der Besatzung danach, in der sich das Verhältnis ganz grundlegend wandelte: von Feindseligkeit in Bewunderung, bisweilen sogar Verehrung. Und nach dem Abzug der Besatzer die Sehnsucht nach deren Musik, die ein im traditionsverhafteten Japan nie für möglich gehaltenes Maß an Lebensfreude und Freiheit verkörperte.

Dieser rebellische Geist lebt weiter. Irgendwo stößt der Fotograf sogar auf ein Grafitti, das ihn zum Sprechen bringt, ein Zitat von Thelonious Monk. Und es braucht noch nicht einmal übersetzt zu werden: "Jazz and freedom go hand in hand."

Tokyo Jazz Joints

von Philip Arneill
Seitenzahl:
168 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Kehrer
Bestellnummer:
978-3-96900-120-2
Preis:
45 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 03.09.2023 | 16:20 Uhr

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