Welchen Einfluss hat Muttersprache auf die Musikalität?
Die erstaunliche Erkenntnis einer Studie aus dem vergangenen Jahr lautet: Die Deutschen haben mehr Rhythmusgefühl als die Chinesen - und das liegt an ihrer Muttersprache. Ein Gespräch mit Daniel Müllensiefen, der zur Wirkung von Musik auf Menschen forscht.
Der Musikpsychologe arbeitet am Goldsmiths College an der University of London. Er entwickelte mit dem Goldsmith Musical Sophistication Index (Gold-MSI) einen Test zur Messung von Musikalität, der sich als Standardwerkzeug in der Musikforschung durchgesetzt hat. Auch mit Computeranalysen zur Erkennung von Plagiaten und Ohrwürmern machte er von sich reden. Außerdem erforscht Müllensiefen, wie weit musische Begabung mit Intelligenz, positivem Sozialverhalten und besseren Schulnoten einhergeht.
Herr Müllensiefen, hat es Sie überrascht, dass ausgerechnet die Deutschen ein super Rhythmusgefühl haben im Vergleich zu anderen Muttersprachlern?
Daniel Müllensiefen: Man muss sagen, dass die Deutschen auf den "Beat Alignment Test", auf den Sie ansprechen, im oberen Mittelfeld liegen, und bei anderen Tests, wie zum Beispiel dem Melodie-Unterscheidungstest, liegen sie eher weiter unten. Die Deutschen sind nicht so ganz schlecht, sie sind zum Beispiel besser als die Chinesen oder die Sprecher von tonalen Sprachen im Beat Alignment. Das ist interessant zu wissen, aber irgendwo mussten wir ja sein. Dass wir nicht die Besten sind und nicht die Schlechtesten, das nehme ich gerne so in Kauf.
Mandarin-Sprecherinnen und -Sprecher erkennen dafür Melodien viel besser als deutsche Muttersprachler, haben eine höhere Musikalität. Wie erklärt sich das?
Müllensiefen: Das mag in der Tat daran liegen, dass die mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen sind. Die tonalen Sprachen wie das Mandarin benutzen Tonhöhen und die Veränderung von Tonhöhen über die Zeit dazu, semantisch etwas auszudrücken, also Bedeutung zu vermitteln. Das heißt, Sprecherinnen von verschiedenen Dialekten von Chinesisch werden sehr genau darauf achten, ob die Sprache hoch oder runter geht. Und genau aus diesen Tonhöhenbausteinen bestehen auch Melodien. Die Struktur der eigenen Sprache gibt ihnen also etwas vor, was bei der Übertragung auf die Musik sehr hilfreich ist, nämlich auf das Auf und Ab zu achten und das auch im Gedächtnis zu behalten.
Kann man also sagen, dass es Muttersprachen gibt, mit denen man es leichter hat, musikalisch zu sein?
Müllensiefen: Musikalisch zu sein, ist ja ein weiter Begriff. Da gehört es nicht nur dazu, Tonhöhenunterscheidungen zu treffen oder sich Melodien merken zu können, sondern auch so etwas wie: den Beat wahrnehmen, verschiedene Rhythmen unterscheiden oder komplexe musikalische Szenen auseinandernehmen zu können. Ich glaube nicht, dass die Chinesen und Chinesinnen insgesamt musikalischer sind als wir. Sie haben einen Schwerpunkt in einem anderen Aspekt, der für bestimmte Arten von Musik wichtig ist - und hier eben für die Melodieunterscheidung.
Ich hätte gedacht, Sprachen, in denen viele Vokale vorkommen, die sehr melodiös klingen, machen es einem allgemein leichter als harte Sprachen.
Müllensiefen: Die Unterscheidung zwischen harten und weichen Sprachen ist, glaube ich, nicht direkt der Wissenschaft entsprungen. Das geht oft in Richtung Klischees und Stereotype, dass es zum Beispiel heißt, Deutsch sei schwer zu vertonen, weil das weniger melodiös klinge. Aber da gibt es so viele deutsche Lieder und deutsche Opern, die das zu widerlegen scheinen. Ich würde mich gar nicht beteiligen wollen an der Spekulation, welche Sprache der Musik eher entspricht als eine andere Sprache.
Sie erforschen all die Einflüsse auf unsere Musikalität. War Ihnen klar, dass die Muttersprache tatsächlich so ein wichtiger Einfluss ist?
Müllensiefen: Die Muttersprache wurde als wichtiger Einfluss wahrgenommen. Aber dass man das zum ersten Mal jetzt quantifiziert hat und auch sagen kann, wie stark der Einfluss der Muttersprache ist im Vergleich mit anderen Einflüssen, welche Sprachen sich auf welche Aspekte von Musikwahrnehmung niederschlagen, und das von so einer großen Stichprobe, die auf der ganzen Welt gesammelt wurde, das ist tatsächlich etwas Neues. Das ist auch das Interessante an dieser Studie.
Erstaunlicherweise hat Muttersprache trotzdem einen halb so großen Einfluss auf die Musikalität als zum Beispiel, wenn Kinder früh Instrumente lernen, oder?
Müllensiefen: Ja, genau. Das Lernen eines Instruments und aktiv Musik zu machen, zu üben und sich konzentriert mit Musik zu beschäftigen, das sind eigentlich die wichtigsten Einflüsse, die uns wirklich weiterbringen, die auch unser Gehör und unsere Fingerfertigkeit trainieren. Das sind auch die Sachen, die sich am Ende messbar niederschlagen in Musikalitäts- oder Wahrnehmungstests.
Wie weit hängen Musikalität und Sozialverhalten, Intelligenz und so weiter zusammen? Das ist ja auch ein Schwerpunkt Ihrer Forschung.
Müllensiefen: Wir beforschen seit fast zehn Jahren in einer Langzeitstudie die Auswirkungen von musikalischem Training und des Musikmachens während der Jugendzeit. Wir haben herausgefunden, dass Musikmachen tatsächlich ein wichtiger Faktor ist nicht nur für die Ausbildung von intellektuellen Fähigkeiten wie Intelligenz oder Arbeitsgedächtnis, sondern auch fürs Sozialverhalten oder für Einstellungen oder Ansichten, was man eigentlich selber kann und wie sich die eigenen Fähigkeiten entwickeln können. Gerade für diesen Bereich scheint Musik eine wichtige Domäne zu sein, weil man da sehr schnell merken kann: Huch, ich habe noch vor ein paar Wochen überhaupt nicht gewusst, wie ich aus diesem Instrument einen Ton rausbringen kann - und jetzt kann ich schon einfache Melodien spielen. Wenn man das als junger Mensch erlebt, dann hat man da schon einen Vorteil, weil man sich selber erlebt als jemand, der etwas dazulernen kann, dessen Gehirn plastisch ist, dessen Fähigkeiten erweiterbar sind. Diese Erkenntnisse und diese Einstellung lassen sich dann auch auf viele andere Lebensbereiche übertragen.
Das Interview führte Julia Westlake.