Warum es nicht reicht, "Tierleid" zu verringern
Haben wir das Recht, Tieren das Leben zu nehmen, um sie essen zu können? In ihrem Essay fordert die Tierethikerin Hilal Sezgin mehr Konsequenz im Denken.
Neulich unterhielt ich mich mit einem freundlichen jungen Handwerker über Schafe. Ich lebe nämlich Tür an Tür mit einer Herde von Schafen, die ich größtenteils schon als Lämmer kannte und nun in einer Art Schafaltersheim pflege. Der Handwerker erzählte, dass auch sein Vater Schafe halte. Er hänge sehr an ihnen und behandele sie so fürsorglich "wie seine Enkelkinder", so der Sohn wörtlich.
Je mehr er über diese glücklichen Schafe erzählte, desto froher wurde mir zumute, und ich fragte, ob denn die Schafliebe den Vater dazu gebracht habe, auch sein Verhältnis zu anderen Tieren zu überdenken, kurzum: "Isst er andere Tiere?" "Das schon", sagte der Sohn. Ich verstand. "Also bloß nicht seine eigenen Schafe." Doch, und er schlachte sie auch selbst, sagte der Sohn. Damit legte er mir die Nachfrage fast schon zwingend in den Mund: "Isst er denn auch seine anderen Enkelkinder?" Der Sohn räumte ein, dass der Vergleich hier ein wenig hinke - aber nur in diesem klitzekleinen, fast schon unwichtigen Detail: Die geliebten Enkelkinderschafe werden geschlachtet. Ansonsten aber geht es ihnen fantastisch!
Und ich fragte mich, zum wiederholten Male, was eigentlich so gründlich schiefgegangen ist in der Debatte ums Fleischessen und Veganismus, um Tierrechte und Tierethik: Beinahe jeder ist heute gegen Massentierhaltung, beinahe jeder findet es falsch, wenn Tiere zu eng eingesperrt sind. So gut wie alle meinen, eine Kuh, ein Schaf, ein Schwein, ein Huhn habe das Recht, gut zu leben. Aber wenn es ums Beenden dieses Lebens geht, scheint jedes Mitgefühl plötzlich wie betäubt, wie abgeschnitten. Da wird nur noch davon gesprochen, ein Tier müsse angst- und leidfrei, also möglichst "human" getötet werden.
Auch Tiere wollen leben
"Humane Tötung" - das wäre einmal ein Kandidat für das Unwort des Jahres. Ich gehe jetzt lieber nicht auf diesen fast tragischen Irrtum ein, dass Menschen annehmen, ein per Bolzenschuss oder Elektrotauchbad betäubtes Tier erlebe einen "schonenden" Tod. Ich steige besser nicht die Katakomben der Diskussion ums vermeintliche Tierwohl hinab, wo einige zusätzliche Quadratzentimeter Stallfläche ein besseres Gütesiegel versprechen und eine geöffnete Wand für "Außenklimareize" bürgt.
All diese Kollisionen zwischen Wunschdenken, Werbung und Wirklichkeit einmal beiseite. Es geht jetzt nur um den oft geäußerten Satz: "Hauptsache, das Tier hat gut gelebt". Müsste man nicht, wenn man einsieht, dass ein anderes Wesen gerne gut lebt, auch einsehen, dass es überhaupt gerne lebt? Würde irgendjemand leugnen, dass Tiere Todesangst verspüren, dass sie versuchen, dem Schlachter oder der Jägerin davonzulaufen - dass sie also leben wollen? Und wenn jemand leben will, und sogar aktiv viel dafür tut, um am Leben zu bleiben, dann darf man ihm das Leben doch nicht einfach nehmen?
Philosophisch ausgedrückt: Ist es nicht beinahe schon eine notwendige Wahrheit, dass, wo es ein gutes oder ein schlechtes Leben geben kann, das Leben selbst auch ein hohes Gut ist? Nicht nur die einzelnen Erlebnisse sind gut oder schlecht, am Leben zu sein ist an sich wertvoll. Natürlich ist es schlimm, Schmerzen zuzufügen oder gar zu foltern. Und in manchen extremen Zuständen von Schmerz würde man wohl lieber den Tod wählen. Aber nicht zufällig gibt es auch ein eigenes Gebot, das lautet: Du sollst nicht töten. Auch wenn ein Leben nicht großartig, nicht sorgen- und nicht ganz schmerzfrei ist, auch wenn es nicht nur aus Juchhe-Gefühlen besteht, schätzen wir es und hängen daran. Wir alle haben nur dieses eine Leben!
Die Grundsatzfrage der Tötung erörtert fast niemand
Und wenn so oft Anklage gegen das Leid in der Massentierhaltung geführt wird und wenn wir so viel über Tierwohl diskutieren wie in den letzten Jahren, müsste sich daher auch die Frage nach dem Leben und Lebensrecht der Tiere stellen. Dennoch kommen sie praktisch nicht vor in unseren öffentlichen Gesprächen und politischen Diskussionen. Ob Tierschützerin oder Landwirtschaftsminister, ob Veterinärmedizinerin oder Bauernvertreter: Alle versuchen, ein wenig an Einzelheiten der Haltung herumzudoktern. Die Grundsatzfrage der Tötung erörtert fast niemand.
Ich denke inzwischen, dass das nicht nur an denjenigen liegt, die weiterhin gerne Tiere essen würden und vielleicht insgeheim nach Ausflüchten suchen, sondern auch wir, die Tierrechtler*innen oder Tierethiker*innen, haben dazu beigetragen. Statt entschieden für die Rechte der Tiere einzutreten, haben wir demütig gebeten, dass man sie nicht allzu schlimm misshandelt. Wir sagen nicht: Lasst den Schweinen das Leben! Sondern: Ach, bitte lasst ihnen doch wenigstens die Ringelschwänze. Wir sagen nicht: Hühner sind keine Eierlegemaschinen! Sondern: Auch Eierlegemaschinen möchten gelegentlich an die frische Luft.
Können Tiere leiden?
Wir haben nicht das ganze Tierleben im Blick gehabt, sondern nur die allersichtbarsten Auswüchse des Tierleids. Vielleicht stand dahinter die Angst, zu radikal zu wirken; oder die Hoffnung, mit dem Argument "Leid" ließen sich wirklich alle erreichen. In jedem Buch und jedem Artikel zur Tierethik wurde Jeremy Benthams berühmte Fußnote zitiert: "Die Frage heißt nicht: Können Tiere denken oder reden? Sondern: Können sie leiden?"
Während man sich auf das Problem des Tierleids fixierte, reduzierte man das Erleben der Tiere auf die simpelsten Reaktionen von Lust und Unlust. "Hauptsache, es hat gut gelebt" - wenn Konsument*innen dies heute sagen, meinen sie zumeist nur, dass den Tieren zusätzliche Grausamkeiten erspart blieben. Nicht bedacht werden die Langeweile, der Mangel an Sinneseindrücken, der Verlust der Kinder und des Soziallebens, die körperlichen Manipulationen und der gewaltsame Tod.
Ähnliches Verhalten bei Tieren und Menschen
Es gibt alternative Bilder vom guten Leben der Tiere. Sowohl die biologische Verhaltensforschung als auch die Kognitionswissenschaften haben in den vergangenen Jahren viel dazu beigetragen. Sie haben Freundschaften und Familienverhalten von Tieren untersucht. Sie haben gezeigt, dass Tiere auch die Individuen anderer Arten an Stimmen, Formen, Farben und Gesichtern erkennen. Sie können die Laute und Zeichen anderer Tierarten deuten und nachahmen, manche Vögel lernen die Melodien unserer Telefone. Kraken können Gläser aufschrauben und meistern Labyrinthe. Manche Fische legen bei der Brautwerbung komplizierte Mandalas aus Sand an. Tauben orientieren sich an menschlichen Straßennetzen und andere Vögel an den Sternen.
Tiere entwickeln alltägliche Routinen, sind "Gewohnheitstiere" wie wir - und beschreiten auch mal neues Terrain und wissen die Abwechslung zu schätzen. Sie haben Freude am Spiel oder können sich langweilen. Dann wieder genießen sie die Ruhe, die Sonne auf dem Fell, den kühlen Schatten, die Erfrischung eines Wasser- oder Staubbads. Sie toben im Schnee, schlittern verschneite Dächer herunter, springen in Pfützen, um das Wasser aufspritzen zu lassen, hüpfen auf einer Wippe - das Internet ist voller Videos mit Tieren, die offensichtlichen Spaß daran haben, die Schwerkraft auszutricksen. Denn sie kennen Naturgesetze, auch wenn sie keine Doktorarbeiten darüber schreiben, und merken, wenn etwas anders läuft als erwartet. Viele Tiere finden so etwas lustig oder gruselig. Katzen zum Beispiel sehen manchmal Gespenster, wo keine sind. Dafür steuern ihre Kleinhirne akrobatische Bewegungen, die uns im Traum nicht einfallen würden. Für uns Menschen ist ein Individuum, wer sich im Spiegel erkennt - aber ein Hund erkennt sich samt all seinen Kumpels, die kürzlich vorbeikamen, am Urin.
Das Leben als essentielles Gut aller Lebewesen
Die Welt anderer Tiere ist nicht simpler als die menschliche, sondern in vielem ähnlich, in einigem anders - aber eben komplex. Es gibt inzwischen auch mehrere ethische Theorien, die dieser Komplexität gerecht werden. Die amerikanische Kantianerin Christine Korsgaard argumentiert glasklar dafür, dass das Leben ein essentielles Gut aller Lebewesen ist, die individuell wahrnehmen, empfinden und etwas wollen. Die - ebenfalls amerikanische - Philosophin Martha Nussbaum versteht ihre ethische Theorie vom guten Leben so, dass sie nicht allein für Menschen gilt, sondern auch für (andere) Tiere. Zunehmend werden Tiere auch in der politischen Philosophie mitgedacht und dabei werden sie nicht nur als passiv erduldend, sondern als Handelnde beschrieben.
Solche Gedanken müssen sich nicht in den Bücherregalen der Philosophie verstecken, sondern haben auch hohe Relevanz für den Alltag. Sie könnten unsere politischen und allgemeinen öffentlichen Diskussionen umformen. Sie könnten die Fixierung aufs Tierleid ablösen, das seit Jahren den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Tierschutzpolitik darstellt.
Die Sinne und Erfahrungen von Tieren ernst nehmen
Wir sollten die Vielfalt der Sinne und Erfahrungen von Tieren ernst nehmen: ihre Fürsorge für die Kinder, ihre Lust am Spiel, ihre Freude an der Bewegung, ihre Aufmerksamkeit für die Umgebung - ihr Interesse am Leben.
Dieses Interesse, und die Lebensfreude, bestehen übrigens auch bei alten Tieren und auch bei gehandicapten. Es ist ja kein Geheimnis, dass Lämmer niedlich sind - aber durch meine alten Schafe habe ich gelernt, dass auch sie eine Würde haben. Einige sind blind, bekommen im Alter Grauen Star wie wir Menschen, aber sie können sich oft gut orientieren. Manche Schafe führen Freundschaften schon 15 Jahre lang!
Wenn wir zugestehen, wie reichhaltig die Sinne, die Kognition und das individuelle Erleben anderer Tiere sind, dann erweitert sich womöglich auch unsere Welt. Und unsere Wahrnehmung dessen, was alles so um uns herum und mit uns existiert, wird ebenfalls reicher.