Rituale im Advent: "Gesucht wird ein Stück heile Welt"
Einer aktuellen Umfrage zufolge legt die Mehrzahl der Menschen in Deutschland Wert auf Tradition: Für 58 Prozent etwa ist es wichtig, im Advent Zeit mit der Familie zu verbringen. Manfred Becker-Huberti forscht zu diesem Thema.
Das ist schon ganz gut eingerichtet, dass Advent und Weihnachten in die ungemütlichste Zeit im Jahr fallen. Viele Traditionen sind so beschaffen, dass sie genau über diese Zeit ein bisschen hinweghelfen: zusammenrücken, Kerzen anzünden, Musik hören, sich gegenseitig Gutes tun - das alles stiftet Gemeinschaft. Der katholische Theologe Manfred Becker-Huberti forscht zu religiösem Brauchtum.
Herr Becker-Huberti, was ist für Sie persönlich ein Brauch, der zum Advent unbedingt dazugehört?
Manfred Becker-Huberti: Es ist einer, der heute ziemlich vergessen ist - ich habe ihn aber immer sehr geliebt: das Christkindl einläuten. Das erfolgte am 17. Dezember, machte darauf aufmerksam, dass Weihnachten vor der Tür steht, und forderte dazu auf, in der Nachbarschaft nach den Alten und Kranken zu sehen, die sich selber nicht helfen können, um dafür zu sorgen, dass die würdig Weihnachten feiern können. Dazu gehörte, dass die Messdiener zum Beispiel an Heiligabend oder am Abend zuvor diese Kranken besuchten, ihnen ein Lied sangen, ein Gedicht vortrugen und auf diese Art und Weise Gemeinschaft herstellten.
So etwas gibt es auch heutzutage noch, dass Leute in Seniorenheimen oder in Krankenhäusern besucht werden. Aber wie erklären Sie sich, dass solche Dinge sich auch verändern?
Becker-Huberti: Es ist heute zunehmend anonymer geworden. Man weiß manchmal gar nicht, wer über oder neben einem wohnt. Da gibt es Gesetze, die versuchen, diese Anonymität auch zu wahren. Es ist nicht ganz einfach, das zu überbrücken. Man erfährt heute als Pfarrer nicht einmal mehr, wer aus der Gemeinde im Krankenhaus gelandet ist, weil das nicht mehr mitgeteilt werden darf.
Es ist auch so, dass christliche Tradition für viele Menschen gar nicht mehr so eine große Rolle spielt. Trotzdem stelle ich fest, dass gerade Advent und Weihnachten vielen unglaublich wichtig ist. Wie erklären Sie sich das?
Becker-Huberti: Der Kirchenbesuch in der Advents- und Weihnachtszeit ist überbordend im Vergleich zum Restjahr. Gesucht wird ein Stück heile Welt, ein Stück der Kindheit, der Vergangenheit. Das ist etwas, was die Menschen auszeichnet, dass sie zusammenrücken können, dass sie wieder versuchen, Gemeinschaft zu bilden. Und sie wissen, dass sie in der Gemeinschaft auch Sicherheit finden.
Wir leben in einer Zeit, die viele als sehr instabil wahrnehmen: die Kriege, der Klimawandel, die Sorgen, wie das eigene Leben weitergeht oder das der Kinder mal aussehen wird. Lässt sich da auch ein Zusammenhang herstellen?
Becker-Huberti: Ja, natürlich. Sie müssen sehen, dass die Verhältnisse in der Zeit, als Jesus geboren wurde, nicht sehr viel anders waren als heute auch. Die Sicherheit, die wir uns an vielen Stellen einreden, ist eine geborgte oder eine herbeigelogene. So sicher sind wir gar nicht. Die Unsicherheit besteht in jedem Leben von uns, dass wir es eines Tages abgeben müssen. Das ist etwas, was uns allen nicht gefällt.
Sie selbst sind Katholik, und in Ihrer Forschung geht es in erster Linie um katholisches Brauchtum. Trotzdem können Sie das vielleicht auch mit großen Festen in anderen Religionen vergleichen: Inwieweit sind solche Rituale oder die Bedürfnisse, die dahinterstecken, universell?
Becker-Huberti: Sie sind insofern universell, als es im Begriff schon klargemacht wird: Religion heißt Anbindung, Rückbindung, und das heißt Sicherheit finden. Religion ist immer ein Versuch, sich mit Kräften in Verbindung zu setzen, die meine Kräfte weit überragen. Das ist das, was wir "göttlich" nennen. In diesem Sinne ist Religion immer der Versuch, eine Art Sicherheit, eine Art Treppengeländer im Leben zu geben.
Das Interview führte Franziska von Busse.