Eine Frau hält ein Herz in der rechten und ein Gehirn in der linken Hand. © picture alliance

Neurowissenschaft: Verstand und Gefühl lassen sich nicht trennen

Stand: 07.06.2024 11:34 Uhr

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner plädiert für eine neue Debattenkultur in Gesellschaft und Politik. Wenn wir Emotionen zulassen, agieren wir lösungsorientierter, behauptet die Neurowissenschaftlerin.

Krisen wie Krieg und Klimawandel bestimmen Debatten in Politik und Medien. Doch langfristige Lösungen sind bislang nicht in Sicht. Stattdessen haben viele Menschen das Gefühl, von negativen Schlagzeilen überflutet zu werden. Angesichts dieser Überforderung entsteht oft ein Gefühl von Hilflosigkeit und schließlich Politikverdrossenheit, argumentiert Maren Urner. Dabei sind wir alle politisch, sagt die Neurowissenschaftlerin. "Politik ist nichts anderes, als unser Zusammenleben zu gestalten", erklärt Urner in der Sendung "DAS!" im NDR Fernsehen.

Wie kommen die Menschen aus dieser Negativspirale heraus - und wie kann es der Politik gelingen, langfristige Lösungsansätze zu verfolgen? Dafür müsste zuerst mit einem Missverständnis aufgeräumt werden, der Trennung zwischen Gefühl und Verstand, sagt Urner. "Denn das kommt alles in unserem Kopf zusammen." Sie glaubt, dass mehr Ehrlichkeit und das Zulassen von Emotionen in Debatten zu besseren Ergebnissen führt. Denn: "Gefühle und Emotionen bestimmen, was wir richtig oder nicht richtig finden", so Urner. "Nur wenn wir ehrlich darüber reden, dass es immer Werte sind, die das entscheiden und bestimmen, was wir gerade für richtig und falsch bestimmen, können wir die ehrlicheren und lösungsorientierteren Debatten führen."

Emotionsloser Bundeskanzler Scholz schürt damit Widerspruch

Was passiert, wenn Politiker vorgeben, rational und ohne Emotionen zu agieren, analysiert Urner am Beispiel von Bundeskanzler Olaf Scholz: Nach Urners Meinung versucht Scholz wahrscheinlich bewusst, ein Bild zu produzieren, dessen Politik rein rational ist und nicht von Werten und Überzeugungen getragen wird. Genau diese Herangehensweise stoße bei Menschen mit anderen Meinungen dann auf totalen Widerspruch. "Ich kann nicht über richtig und falsch sprechen, wenn ich nicht über meine Werte spreche. Das vermeintlich Emotionsfreie kreiert beim Menschen mit anderer Überzeugung noch größere Ablehnung. Deshalb ist es so wichtig, dass wir ehrlicher über die Emotionen und Gefühle sprechen, die sowieso präsent sind", beschreibt Urner die Hirnreaktion auf bestimmte Verhaltensweisen.

Kein Geschlechterunterschied bei Emotionen

Eine Frau mit langen dunkelblonden Haaren und schwarzem Blazer schaut nach vorn. © picture alliance/dpa | Foto: Oliver Berg
Von Maren Urner ist zuletzt das Buch "Radikal emotional. Wie Gefühle Politik machen" im Droemer Verlag erschienen.

Dagegen stoße ein emotionales Verhalten, wie es Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zuweilen zeige, zumindest eine Tür auf, die zu Gesprächen führe. Auch wenn diese Beispiele zufällig dem Klischée entsprechen: Es gebe aus neurowissenschaftlicher Sicht keinen Gechlechterunterschied zwischen emotionalem und rationalem Verhalten - ein Unterschied bestehe lediglich zwischen Individuen, betont Urner. In weiten Teilen der westlichen Gesellschaft gelten Gefühle noch immer als weiblich und zumindest leicht negativ konnotiert, während Rationalität eher als männliche, positive Eigenschaft gesehen wird. Zuschreibungen, die wissenschaftlich widerlegt sind.

Neugier als Erfolgsrezept für Innovation und Lösungen

Die Menschen sollten ehrlich darüber reden, was in ihnen vorgeht und wie sie ihr Leben gestalten wollen. Voraussetzung dafür sei, dass die Diskussionen nicht von Angst gesteuert sind. Als wichtige Eigenschaft für Innovation und Neues hat Maren Urner die Neugier identifiziert. "Neugier lässt uns Dinge tun, die noch nicht da sind", erklärt die Neurowissenschaftlerin. "Neugierde ermöglicht uns überhaupt erst Lösungsorientiertheit, sie ist unser Erfolgsrezept."

Angst blockiert Gehirnareale für langfristiges Planen

Individuelle, aber auch politische Debatten und Entscheidungen werden häufig von Angst und Unsicherheit geprägt. Dass das keine Grundlage für eine vorausschauende Politik ist, zeigen zahlreiche Studienergebnisse. Demnach zeigen diese Untersuchungen, "dass, wenn Menschen in Angst und Unsicherheit sind, die Bereiche im Gehirn, die für langfristiges Planen, aber auch für die Rückschau abgespeichert sind, nicht mehr zugänglich sind. Das heißt, wir sind zurückgeworfen auf dieses ultrakurzfristige Denken. Wir sind ohnehin schlecht darin, langfristig zu denken. Das ist fatal - auch für politische Entscheidungen", sagt Maren Urner.

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Dieses Thema im Programm:

DAS! | 02.05.2024 | 18:00 Uhr

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