Jüdischer Friedhof Niederhof: Geschichte, Geheimnisse und Versöhnung
Grabsteine mit hebräischer Schrift, darüber die Buchen, darunter der Sund. Die Faszination für diesen Ort veranlasste Forscher, das bisher umfangreichste Buch über den Friedhof in Niederhof herauszugeben.
Es ist die Frau des Bankiers Giese, die ihren Mann überredet, auf ihrem Gut in Niederhof einen Platz für das Grab eines jüdischen Mädchens zu schaffen. Unbekannt ist, ob es zwölf oder 14 Jahre alt geworden war: "Noch keine Frau", sagt Historiker Joachim Krüger. Bekannt aber ist, dass sich der Silberhändler Hertz verzweifelt an den Direktor der königlichen Münzanstalt wendet. Die aus Posen eingewanderte jüdische Familie hat auf dem gesamten Stadtgebiet keine Ruhestätte für ihr verstorbenes Kind gefunden. Es ist das Jahr 1776.
Sie erhalten die Erlaubnis für das Begräbnis. "Und später auch für weitere Gräber", sagt der Theologe und Judaist Andreas Ruwe. Und so entsteht unter den Buchen des Gutsparks Niederhof der erste jüdische Friedhof des heutigen Vorpommerns: romantisch gelegen auf einem Steilufer am Sund, zwischen den Hansestädten Greifswald und Stralsund. Joachim Krüger und Andreas Ruwe - beide Forscher beschäftigen sich seit Jahren mit dem Friedhof, wandeln Unbekanntes in Bekanntes. Sie finden heraus, wer hier liegt, was auf ihren Steinen steht, was den Gräbern in einem Vierteljahrtausend geschah.
Buch erscheint im März
Ruwe, der als Wissenschaftler nicht von Magie sprechen mag, aber doch von einer Faszination für diesen Ort ergriffen ist, fährt wohl 50, 60 Mal auf das etwa tanzsaalgroße Gelände, das direkt an einen slawischen Burgwall grenzt. Mitunter auch mit seinen Studierenden. Er untersucht die schlichten, mit hebräischen Schriftzeichen versehenen Granitsteine, überträgt, übersetzt, vergleicht die Inschriften mit anderen andernorts. Seine Erkenntnisse fließen in ein Buch, das im März 2025 erscheinen wird.
Keimzelle der jüdischen Gemeinde in Stralsund
Krüger, Lehrer, Historiker und Unterwasserarchäologe, hat zuvor in der Tollense nach Relikten der großen Schlacht vor 3.000 Jahren getaucht. Nun geht er zwischen alten Buchdeckeln auf "Tauchgang" und was er entdeckt, ist ebenfalls alles andere als "trocken". Über das Leben in Stralsund zur Zeit, als das jüdische Mädchen stirbt, kurz nach dem Siebenjährigen Krieg. Über die Münzanstalt: Ihre Eltern sind zwei der wenigen Juden, die sich in der Hansestadt niederlassen dürfen. "Weil sie Versierte der Edelmetallveredlung sind", sagt Krüger. Einfach haben sie es nicht, gegen die stolzen Landstände zu bestehen.
"Aber diese zwölf oder 13 Eingewanderten bilden die Keimzelle der jüdischen Gemeinde in Stralsund", ergänzt Ruwe, der sich Krüger als Mitautor ins Boot holte. Denn auch Krüger hat eine Beziehung zu diesem Ort: Schon sein Vater, Pastor aus Prohn, kannte einen Überlebenden der Shoa, einen, der sich um die Erinnerung an den Friedhof verdient machte. Er hieß Heinz Höwing, und als er starb, wünschte er sich vom evangelischen Pastor, er möge das Kaddisch an seinem Grabe sprechen, ein jüdisches Lobgebet. "Für meinen Vater war das ein Akt der Versöhnung", sagt Krüger.
27 Steine, 47 Steinfragmente - viele Geheimnisse
Versöhnung. Friede einem friedlichen Ort. Dass die Wunden verheilen, die der fast vergessene Friedhof in der Nachkriegszeit erlitten hat. Das ist das Anliegen dieses Buches, das nun die ganze Geschichte des Friedhofs Niederhof erzählt. Mit den Details drum herum und mit hochwertigen Bildern versehen. Bilder, die ahnen lassen, wie viele Geheimnisse noch immer von den 27 Steinen, den über 47 Steinfragmenten bewahrt werden.
Das Buch: Andreas Ruwe (Hg.). Der Friedhof von Niederhof. Der älteste jüdische Friedhof in Vorpommern als Spiegel jüdischen Lebens. Rekonstruiert, transkribiert, übersetzt und kommentiert. Unter Mitwirkung von Nathanja Hüttenmeister und Joachim Krüger.
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