Itzehoe: "Erinnerungskultur" als Unterrichtsfach
Am Sophie-Scholl-Gymnasium gibt es in diesem Schuljahr den Kurs "Erinnerungskultur". Die Schüler und Schülerinnen der 9. Klassen beschäftigen sich - früher als sonst - mit dem Nationalsozialismus und organisierten eine Gedenkfeier am Mahnmal in Itzehoe.
"Wir, das Sophie-Scholl-Gymnasium, haben vor etwa zwei Jahren die Patenschaft für das Mahnmal in Itzehoe übernommen - und da kam der Gedanke auf, das Ganze eben im Rahmen der 'Erinnerungskultur' allgemein einem Wahlpflichtkurs zuzuordnen", erklärt Geschichtslehrer Jan Wiebe.
Das heißt: Wer mitmacht, hat auf anderes Fach im Schuljahr verzichtet - auf Sport vielleicht oder Theater. Mit Blick auf den Gedenktag ist alles besprochen: Wer organisiert die Kranzlege, macht Ton und Technik für die Redner, hat die Parkplätze im Blick? Lehrer Wiebe wirkt sehr zufrieden - und lässt jetzt erstmal seine Schützlinge sprechen: "Wir haben uns jetzt lange über den Nationalsozialismus unterhalten. Und das hatten wir so noch nicht im Geschichtsunterricht", sagt zum Beispiel Schülerin Anna.
Kein reiner Geschichtsunterricht, sondern viel offener
Es sei kein reiner Geschichtsunterricht gewesen, sagt Anna, es sei ihnen um die Erinnerung gegangen, um den Umgang mit Geschichte. Aber sie habe dabei eben einiges über ihre Stadt gelernt: "Ich hab‘ vorher immer 'großräumig' gedacht. Aber den Nationalsozialismus hat es eben auch in Itzehoe gegeben. Und deswegen finde ich‘s einfach interessant."
Mitschülerin Fiene erzählt, dass sie in Gruppen arbeiten würden, u. a. für die Öffentlichkeitsarbeit, um die Gedenkveranstaltung zu bewerben. So oder so sei die donnerstägliche Doppelstunde aber richtiger Unterricht: "Aber dieser Unterricht ist viel offener. Du kannst immer nur deine eigene Meinung dazu sagen. Du kannst nicht so richtig was Falsches sagen wie in Mathe. Das gibt es in 'Erinnerungskultur' nicht so recht."
Erinnerung an die nächste Generation weitergeben
Die Schülerinnen und Schüler sind auf dem Weg zum Mahnmal, das es seit dem 8. September 1946 gibt - es war das erste für die Opfer des Nationalsozialismus in Nordeuropa. Weiter vorne in der Gruppe geht Robert, auch er ist 15 Jahre alt: Geschichte liege ihm, sagt er. Ihn würde schon auch die Zeit vor 300 Jahren interessieren oder vor 30, aber eben auch der Nationalsozialismus.
"Da auch welche aus meiner Familie, soweit ich weiß aus Polen, in einem Konzentrationslager waren. Das möchte ich weitergeben an die heutigen Fünft- und Sechstklässler oder die noch Jüngeren. Denn die müssen das in acht oder neun Jahren weitergeben an die nächste Generation. Das liegt mir einfach sehr am Herzen", sagt der Schüler.
Auch Robert erzählt von ihrer Gruppenarbeit - und wie es geholfen habe, über die A-, B- und C-Klassen hinweg zusammenzukommen. Ein wichtiges Thema sei es gewesen, "Zeitzeugen zu finden, damit sie uns vielleicht etwas präsentieren wollen. Denn wir engagieren uns, den Tag so zu gestalten, dass es gut wird und dass es zeigt, wie wichtig der Tag ist, wie schlimm die Jahre waren - und dass man sich daran erinnern sollte."
Umgang mit Kolonialgeschichte als Vorbild
Wie ist Geschichtslehrer Wiebe didaktisch vorgegangen, bei diesem neuen Kurs "Erinnerungskultur"? "Wir haben uns zunächst dem Thema genähert: Was ist 'Erinnerungskultur'? Was gehört dazu? Warum muss man sich erinnern? An was muss man sich erinnern? Und dann sind wir eigentlich noch gar nicht auf Deutschland gekommen, sondern haben uns erstmal in anderen Ländern umgeguckt."
Frankreich zum Beispiel - und der dortige Umgang mit der Kolonialgeschichte. So seien sie zu Deutschland gekommen, hätten Kontinuitäten über Jahrhunderte hinweg besprochen - und stünden jetzt da, wo Hundertausende gegen Faschismus und Rechtsextremismus auf die Straße gingen. Zusammenhänge würden seine Schüler da schon erkennen, sagt Wiebe. "Aber, man muss ja auch die Zeitzeugen der NS-Zeit im Hinterkopf haben. Und da gibt es einfach nicht mehr so viele. Es ist also mehr Aufgabe der kommenden Generationen, eben diese Erinnerung wachzuhalten."
Kreatives Gespräch am Mahnmal
Am Mahnmal geht‘s zunächst um die Beschreibung. Der Architekt Fritz Höger hat es entworfen: als schlanke Backstein-Stele mit Tafeln und Inschriften zu Freiheit und Demokratie. Auch er wusste, dass man die beschützen muss. Also rahmt ein grauer Käfig das fünf Meter hohe Objekt. Eine gute halbe Stunde kreatives Gespräch. Dann schickt Wiebe alle nach Hause.
Wie geht’s mit dem Kurs "Erinnerungskultur" denn jetzt weiter, nach der Gedenkveranstaltung? "Das weiß ich noch nicht, weil das die Schüler und Schülerinnen im Wesentlichen entscheiden. Ich habe vorher nur gesagt, dass wir diese Veranstaltung am Mahnmal planen müssen. Ansonsten haben sie im großen Feld 'Erinnerungskultur' weitgehend freie Hand."