Interview zum Holocaust-Gedenktag: "Wir verstecken uns nicht mehr"
Heute vor 79 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Stefanie Szczupak und Rebecca Vaneeva wollen an erlittenes Leid - auch in ihren eigenen Familien - erinnern. Doch jüdisches Leben immer zuerst mit dem Holocaust zu verbinden sei eine "traurige Assoziation".
Der 27. Januar ist Internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust. An jenem Tag befreiten Soldaten der Roten Armee 1945 die Konzentrationslager von Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen hatten die Nazis dort ermordet. Im Gespräch mit Stefanie Szczupak von der Jüdischen Gemeinde Hamburg und Rebecca Vaneeva vom Verband Jüdischer Studierender Nord geht es um tiefe Wunden in jüdischen Familien, eine neue Erinnerungskultur - und Mut in Zeiten des wachsenden Antisemitismus.
Noch können die Überlebenden selbst ihre Geschichte erzählen. Doch sie werden älter. Sind jetzt die Jüngeren dran?
Stefanie Szczupak: Ja, jetzt ist es mehr und mehr an uns. Jetzt müssen wir Zeugnis ablegen und die Geschichte unserer Eltern und Großeltern weitererzählen. Wenn die erste Generation das nicht mehr kann, muss es ja trotzdem Menschen geben, die darüber reden. Das finde ich wichtig, zumal wir ja auch einen ganz eigenen Blick auf die Shoa haben.
Inwiefern haben Sie einen eigenen Blick?
Szczupak: Mein Vater hat das Warschauer Ghetto, sechs Konzentrationslager, Auschwitz und zwei Todesmärsche überlebt - aber mit uns wollte er nie darüber sprechen. Und doch wusste ich als Kind eigentlich alles. Das hat damit zu tun, dass die jüdischen Menschen, die nach dem Krieg in Hamburg gestrandet sind, sich hier zusammengefunden haben. Sie waren ein bisschen wie eine kleine Familie, weil sie ja alle keine Familie mehr hatten. Und da hat der eine oder andere ein bisschen mehr erzählt. Das heißt, ich habe als Kind Geschichten gehört, die wahrscheinlich ein Kind gar nicht hören sollte.
Ihr Vater hat nie mit Ihnen darüber geredet?
Szczupak: Erst ganz spät, da waren mein Bruder und ich schon erwachsen. Er wollte uns halt nicht belasten. Es war so grausam, was er erlebt hat, dass er auch bis zum Ende über viele Dinge gar nicht sprechen konnte. An sich war mein Vater ja ein sehr lebenslustiger Mensch und auch ein großer Menschenfreund. Doch er hatte, solange er lebte, jede Nacht Albträume. Diese Albträume hatte ich auch lange Zeit. Das macht etwas mit einem. Als Kind war ich furchtbar ängstlich. Mein Vater hat aber immer gesagt "Du darfst alles haben in deinem Leben, aber keine Angst". Und heute kann ich mit Fug und Recht sagen, dass ich dieses Motto übernommen habe. Aber das war ein weiter Weg.
Frau Vaneeva, auch Sie gehören zu den Jüngeren, denen immer mehr die Aufgabe zufällt, an den Holocaust zu erinnern.
Rebecca Vaneeva: Ja, das stimmt. Aber ich glaube, ich möchte vor allem eine Brücke schlagen zur Gegenwart. Das ist mein Ansatz. Natürlich möchte auch ich über meine Familiengeschichte reden oder auch die von anderen erfahren. Aber mir ist auch wichtig, dass wir das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland betrachten, weil ich das Gefühl habe, dass in Deutschland Judentum teilweise immer noch zuerst mit der Shoa assoziiert wird. Das ist für mich eine sehr traurige Assoziation, die bei weitem nicht das ganze Spektrum der jüdischen Gesellschaft in Deutschland heute aufzeigt: wie sich junge jüdische Menschen heute fühlen oder auch eben meine Eltern beispielsweise. Und das ist, glaube ich, das, was der jüngeren Generation auch am Herzen liegt.
Wie ist die Geschichte Ihrer Familie?
Vaneeva: Meine Familie kommt ursprünglich aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Sankt Petersburg, was damals Leningrad hieß. Im Zweiten Weltkrieg riegelte die Wehrmacht die Stadt für zwei Jahre ab, sodass über eine Million Menschen verhungerten. Auch meine Familie. Nur meine Großmutter überlebte und stand mit gerade mal 15 Jahren plötzlich ganz alleine da. Auch die Geschichte meines Großvaters ist auf ihre Weise schlimm: Er war im Krieg in der Roten Armee und musste seinen Namen ändern, um sich vor Antisemitismus, Verfolgung und Deportation zu schützen, die es auch in der Sowjetunion gab. Das alles hat Wunden in unserer Familie hinterlassen.
Sie sind beide praktisch ohne Großeltern aufgewachsen.
Szczupak: Ja, stimmt. Ohne Großeltern, ohne Tanten und Onkel und ohne deren Erinnerungen. Von meinem Vater gibt es gerade einmal ein Foto aus dieser Zeit, das wir ganz zufällig in einem Archiv gefunden haben. Das zeigt ihn als Jugendlichen im Warschauer Ghetto auf einer Rikscha. Damit hat er damals die Familie ernährt.
Vaneeva: Wir haben ganz viele Bilder von früher, aber darauf sind Familienmitglieder, die ich nie kennenlernen durfte. Darunter ganz junge Kinder, die es leider nicht geschafft haben.
Frau Szczupak, Sie haben heftig genickt, als Frau Vaneeva sagte, es ginge ihr darum, eine Brücke in die Gegenwart zu schlagen.
Szczupak: Ich finde diesen Ansatz sehr wichtig. Wir müssen immer erinnern. Das steht vollkommen außerhalb jeder Frage. Aber es darf nicht so sein, dass wir erinnern, um zu vergessen. Denn es gibt lebendiges, gelebtes, real existierendes Judentum mit ganz lebendigen, auch sehr jungen Menschen und noch viel Jüngeren dazu. Und das finde ich wichtig, dass das nicht vergessen wird. Besonders nach dem 7. Oktober - nach dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel bin ich zum Entschluss gekommen, dass wir uns jetzt erst recht sichtbar machen müssen.
Braucht es eine neue Gedenkkultur?
Vaneeva: Ja, ich gehe damit gerade nach dem 7. Oktober ganz anders um, weil ich einfach merke, dass die Sensibilisierungen in der Gesellschaft noch sehr fehlen. Und ich begehe daher diesen großen Gedenktag jetzt auch mit sehr gemischten Gefühlen. Mein Eindruck ist schon, dass viele das Gedenken an diesem Tag sehr ernst nehmen. Und doch scheint es danach dann keine Rolle mehr zu spielen. Das macht mich manchmal sehr nachdenklich.
Was meinen Sie damit genau?
Vaneeva: Wenn der 27. Januar naht, dann gibt es eine große Awareness. Aber sonst über das Jahr möchten sich viele mit Themen wie Shoa und Antisemitismus nicht wirklich befassen. Nach dem 7. Oktober, finde ich, sind sehr viele Missstände aufgedeckt worden. In der Kulturszene oder auch an den Hochschulen scheint in diesem Bereich viel zu verschwimmen: Wo ist es noch in Ordnung, dass man jetzt den Staat Israel kritisiert? Wo ist das schon antisemitisch? Und das ist etwas, worüber wir ganz dringend reden müssen, weil viele Debatten auch teilweise ohne jüdische Menschen geführt werden. Und das ist ein Problem. Und da müssen wir eben zeigen, dass wir da sind, dass wir bereit sind, zu sprechen, unsere Perspektive mitzuteilen.
Szczupak: Hinzu kommt noch etwas Anderes. Ich kenne viele Juden und Jüdinnen, die sich nach dem 7. Oktober nicht mehr gerne erkennbar als Jüdinnen und Juden zeigen - und ich kann es sogar sehr gut verstehen.
Vaneeva: Absolut. Ich erlebe viele Studierende, die völlig ratlos sind. Wie weit kann ich mich noch sicher auf den Campus begeben? Ich kenne Studierende, die sogar ihr Studium abbrechen, aus Frustration und Angst. Aber auch Studierende, die ganz klar sagen: Ich habe mein Studium beendet und wandere dann aus. Für mich persönlich ist dieser Gedanke keine Option, weil ich der Meinung bin, dass ich das jüdische Leben in Deutschland weiter voranbringen möchte.
Haben Sie eine Ahnung, was Ihre Großmutter und was Ihr Vater Ihnen in dieser Situation geraten hätten?
Vaneeva: Meine Großmutter hat immer versucht, mir zu vermitteln, dass es wichtig ist, in einen friedlichen Austausch zu gehen, in einen Dialog, sich nicht zu verstecken. Und ich glaube, sie hätte sich gewünscht, dass ich weiterhin an mich glaube und nicht aufgebe und mich dann irgendwie abschotte.
Szczupak: Ich habe noch im Ohr, was mein Vater zu mir gesagt hat, kurz bevor er 2016 gestorben ist: "Passt gut auf euch auf und schaut, wie sich die Lage entwickelt. Ich würde mir wünschen, du wohnst jetzt noch mit deinen Kindern hier und machst dir ein schönes Leben. Aber guck, dass du rechtzeitig gehst." Also für den war eigentlich schon damals klar, dass der Zeitpunkt kommen wird, an dem ich gehen soll mit den Kindern.
Hätte er selbst jetzt das Land verlassen?
Szczupak: Das weiß ich nicht. Ich würde das nicht ausschließen, dass er geblieben wäre und gesagt hätte, so und jetzt erst recht. Sein Leitsatz war tatsächlich immer "Schatz, du darfst vor nichts auf der Welt Angst haben!" Mutig zu sein und keine Angst zu haben - das war für ihn ganz wichtig.
Das Gespräch führte Caroline Schmidt für NDR Info.