Islamismus-Experte fordert "klare Haltung aus der muslimischen Community"
"Es ist allerhöchste Zeit, dass vor allem Muslime in Deutschland die Stimme erheben und ein klares Zeichen gegen diese islamistische Kalifats-Bewegung setzen", sagt Islamismus-Experte Eren Güvercin im Interview.
Eine große Demonstration in Hamburg letzten Sonnabend hat viele Menschen aufgeschreckt: Mehr als 1.000 zumeist junge Männer waren durchs Zentrum der Stadt gezogen und haben die Einführung eines Kalifats und der Scharia gefordert. Für Sonnabend hat ein breites Bündnis von Verbänden und Parteien dazu aufgerufen, gegen radikalen Islamismus auf die Straße zu gehen. Auch die Schura Hamburg ist dabei - die sonstigen großen Islam-Verbände nicht. Ein Gespräch mit Eren Güvercin, Islamismus-Experte und Mitglied der Deutschen Islamkonferenz.
Herr Güvercin, wie blicken Sie auf die morgige Demonstration? Was erwarten Sie?
Eren Güvercin: Nach den Bildern von letzter Woche und vor einigen Monaten aus Essen ist es allerhöchste Zeit, dass vor allem Muslime in Deutschland die Stimme erheben und ein klares Zeichen gegen diese islamistische Kalifats-Bewegung setzen. Ich glaube, darauf wartet die Öffentlichkeit, und dieses Zeichen müssen wir als muslimische Community von uns aus setzen. Das ist längst notwendig gewesen, und es ist gut zu sehen, dass es jetzt in Hamburg auch eine Gegendemonstration geben wird.
Kann man da Parallelen ziehen zu den Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus der vergangenen Monate?
Güvercin: Das Ausmaß der Gegendemonstration wird sicherlich nicht vergleichbar sein mit der Demonstration, die für Samstag in Hamburg geplant ist - das wird eher eine kleinere Demonstration sein. Aber sie ist von der Bedeutung sehr wichtig. Es gibt ganz unterschiedliche extremistische Szenen, die unsere liberale Demokratie bedrohen. Dazu gehört der Rechtsextremismus, dazu gehört aber auch der Islamismus und in den letzten Wochen und Monaten eine ganz spezielles islamistisches Milieu, nämlich die Kalifats-Bewegung Hizb ut-Tahrir. Da ist es sehr wichtig, gegen alle extremistischen Kräfte ein klares Zeichen zu setzen, und umso wichtiger ist es, dass vor allem Muslime gegen islamistische Extremisten ein Zeichen setzen.
Letztes Wochenende die Demo in Hamburg, vor einigen Monaten eine Groß-Razzia gegen das Islamische Zentrum Hamburg: Die Zahl der gewaltorientierten Islamisten ist nach Angaben des Senats auf rund 1.500 gestiegen. Sehen Sie in Hamburg eine Art Keimzelle für radikalen Islamismus?
Güvercin: Ja, Hamburg war immer ein Zentrum. Gerade wenn wir uns diese "Muslim interaktiv"-Gruppierung anschauen, die letzte Woche diese Demonstration in Hamburg organisiert hat: Die ist schon seit vielen Jahren besonders in Hamburg sehr aktiv, da sind die führenden Köpfe: Raheem Boateng ist die eine Person, die öffentlich sehr sichtbar ist als Sprecher dieser Gruppierung. Das ist ein Zentrum unter vielen, und "Muslim interaktiv" ist eine von drei Social-Media-Plattformen. Da gibt es noch "Generation Islam" und "Realität Islam", und diese drei Plattformen sind der Hizb ut-Tahrir zuzuordnen - das ist eine Organisation, die eigentlich seit 2003 vom Bundesinnenministerium mit einem Betätigungsverbot belegt ist. Sie sind aber immer noch sehr aktiv, sie sind sogar aktiver denn je. Darüber hinaus sind sie auch in Frankfurt aktiv, in Berlin und auch im Ruhrgebiet. Aber Hamburg hat gerade für "Muslim interaktiv" eine zentrale Bedeutung, und dort haben sie in den letzten Jahren immer mal wieder öffentlichkeitswirksame Aktionen gemacht, wie diese Demonstration letzte Woche.
Es ist immer wieder die Rede davon, dass Islamisten vor allem junge Männer ansprechen, die nicht integriert sind. Aber viele junge Muslime sind in Deutschland geboren, sind hier aufgewachsen und sozialisiert. Was läuft da trotzdem schief?
Güvercin: Man muss sich ganz genau anschauen, wie "Muslim interaktiv" agiert. Sie sind nicht, wie andere islamistische Akteure, ein bisschen aus der Zeit gefallen, wie wir das zum Beispiel bei salafistischen Predigern sehen können. Sie agieren ähnlich wie die rechtsextreme Identitäre Bewegung. Sie nutzen zum Beispiel Elemente der Hip-Hop-Jugendkultur, sie inszenieren sich als junge, durchtrainierte Männer und stellen Statussymbole zur Schau. Gerade über diese Jugendkultur-Schiene versuchen sie, junge Muslime zu erreichen, und das wirkt auf einige junge Muslime durchaus attraktiv.
Bei den meisten jungen Muslimen, die sich von diesen Videos und den Aktionen angesprochen fühlen, besteht kaum ein Bewusstsein darüber, mit was für einer islamistischen Ideologie sie es eigentlich zu tun haben. Sie knüpfen an reale Diskriminierungserfahrungen an, an aktuelle Themen wie den Nahostkrieg - da nutzen sie die Gunst der Stunde, um über die emotionale Schiene diese jungen Muslime über die sozialen Medien anzusprechen, später auch mit bestimmten ideologischen Inhalten zu indoktrinieren, um sie im nächsten Schritt auch für Demonstrationen zu mobilisieren. Das passiert meistens in diesen Schritten, und da müssen wir als Gesellschaft viel wachsamer sein. Einerseits muss die muslimische Community von sich heraus diese problematische Entwicklung offen ansprechen, sich klar positionieren, um den jungen Menschen, die vielleicht nicht wirklich einordnen können, um was für einen Akteur es sich handelt, Orientierung zu geben. Da gibt es für die muslimische Community noch sehr viel zu tun - beziehungsweise für die Akteure, die für sich beanspruchen, die muslimische Community zu vertreten. Das sind die großen muslimischen Verbände, die sagen, sie seien eine Religionsgemeinschaft. Religionsgemeinschaft zu sein bedeutet - das zeigt sich immer in Zeiten von Spannungen und Krisen -, Muslimen, die empfänglich sind für radikales Gedankengut, Orientierung zu geben. Da passiert seit der Demonstration in Essen, aber auch in Hamburg, gar nichts. Das ist ein sehr großer Mangel.
Auf der anderen Seite braucht es auch seitens der politischen Verantwortlichen klare Konsequenzen. Wenn es schon seit über 21 Jahren ein Betätigungsverbot gegen die Hizb ut-Tahrir gibt, fragt man sich, warum diese ideologische, extremistische Bewegung immer noch so frei agieren kann, warum sie es schafft, über andere Plattformen junge Menschen zu erreichen. Da braucht es klare Maßnahmen aus dem Bundesinnenministerium. Man hat dieses Problem überhaupt nicht gesehen, obwohl es durchaus Muslime gab, die die Entwicklung dieser Bewegungen immer wieder zur Sprache gebracht haben. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass "Muslim interaktiv" der Hizb ut-Tahrir-Bewegung angehört. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder Demonstrationen und Propaganda in Berlin, in Hamburg und in anderen Städten inszeniert. Aber das wurde von den politischen Verantwortlichen nicht wahrgenommen. Und vor allem wurde nicht dagegen konsequent vorgegangen, obwohl auch die Sicherheitsbehörden immer wieder darauf hingewiesen haben.
Es braucht also die Maßnahme von politischer Seite, aber auch eine klare Haltung aus der muslimischen Community heraus gegenüber dieser extremistischen Kalifats-Bewegung.