"Haben Verantwortung, uns mit Kolonialismus auseinanderzusetzen"
Bei der Aufarbeitung der Zeit des Kolonialismus hofft Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah auf die Literatur. Hier müssten neue, andere Geschichten erzählt werden, die die Perspektive der Unterdrückten einnehmen.
Der Verlust von Heimat und die Einsamkeit des Lebens zwischen den Welten, das sind die großen Themen, die Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah in seinen Romanen behandelt. Themen, die auch mit seiner Biografie verbunden sind: Gurnah ist als Jugendlicher von Sansibar nach England geflohen. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman "Das versteinerte Herz" erzählt er vom Schicksal des jungen Salim, der eine ganz ähnliche Reise durchlebt.
In "Das versteinerte Herz" erzählt Salim davon, dass er sich lange gefragt hat, was falsch lief in seinem Leben. Und dann, sagt er, habe er eines Tages aufgehört, zu fragen. Ist das Schreiben für Sie vielleicht ein Weg, nicht mit dem Fragen aufzuhören? Sich nicht mit der Antwort zufrieden zu geben, etwas nicht zu wissen oder zu verstehen?
Abdulrazak Gurnah: Salim hat verstanden, dass er nicht alles versteht. Er hat verstanden, dass er nicht die ganze Geschichte kennt. Das ist in meinen Augen eine sehr verbreitete Erfahrung, die es eigentlich in jeder Familie gibt. Da ist dieses Gefühl, dass die Eltern einem nicht alles erzählen. Dass etwas zurückgehalten wird. In einem größeren Sinne gilt das auch für uns als Gesellschaft, wenn wir über die Vergangenheit sprechen. Über die Zeiten, in denen furchtbare Dinge geschehen sind und in denen Menschen furchtbare Dinge getan haben, zum Beispiel zur Zeit des Kolonialismus. Hier gibt es sehr viel, was diejenigen, die dabei waren, die sich am Unrecht, an Verbrechen beteiligt haben, lieber verschweigen. Trotzdem müssen sie natürlich irgendeine Geschichte erzählen. Aber es ist eine Lügengeschichte, denn anders wäre es unmöglich, die Selbstachtung zu erhalten. Sonst wäre es unmöglich, ein Gefühl von nationalem Selbstbewusstsein zu erhalten.
Vielleicht erinnern Sie sich an das Ende des Romans "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad. Der Erzähler, Marlowe, kehrt nach seiner Zeit in Afrika zurück nach Belgien und trifft die Verlobte von Kurtz, jenem Mann, der sich im Kongo ein Schreckensregime aufgebaut hatte. Die Verlobte fragt Marlowe: Was waren seine letzten Worte? Und wir wissen: Kurtz’ letzte Worte waren "Das Grauen! Das Grauen!" Womit Kurtz wahrscheinlich seine eigenen grausamen Taten meint.
Conrad zielt hier aber auch auf das Grauen, das die Europäer im Kongo den Menschen angetan haben. Aber er lässt Marlowe etwas anderes sagen: Marlowe erzählt der Verlobten: "Das letzte, was er sagte, war Dein Name." Er lügt. Er sagt nicht die Wahrheit, sondern erzählt eine andere Geschichte - um ihre Selbstachtung zu wahren und vielleicht auch, um den Ruf seines Landes zu schützen. Das bedeutet aber, dass die Geschichte unvollständig ist. Es gibt noch etwas anderes, das gesagt werden muss. Eine andere Geschichte, die erzählt werden muss.
Ich glaube, viele von uns kennen das Gefühl, dass es ein größeres Narrativ der Geschichte des eigenen Landes gibt. Ein Narrativ, das vielleicht nicht lügt, aber das doch bewusst Sachen auslässt oder verändert. Das eine bestimmte Sichtweise transportiert. Das gilt vermutlich für alle nationalen Narrative. Wenn es aber Menschen gibt, die unter diesem Narrativ leiden oder von ihm nicht berücksichtigt werden, dann gibt es noch etwas, das erzählt werden muss. Das unserem Narrativ zumindest hinzugefügt werden muss. Und es gibt unzählige Geschichten von Menschen, deren Leben zerstört wurde, deren Land gestohlen wurde, deren Kulturen unterdrückt wurden. Und wenn wir endlich auch von ihren Schicksalen und Erfahrungen erzählen, dann ergibt sich eine ganz andere Geschichte unseres Landes.
Das gilt aber nicht nur für die Geschichte der Unterdrückten, sondern auch für diejenigen, die am Unrecht beteiligt waren. Auch hier werden Geschichten nicht erzählt, aus Scham, aus Schuld, sondern wir bedienen uns lieber der alten Narrative, um uns selbst keine unangenehmen Fragen zu stellen.
Gurnah: Das stimmt, aber was gerade in Europa geschieht, stimmt mich hoffnungsvoll. Denn auf ganz vielen Ebenen verändert sich etwas. Ich denke an die Museen, die beginnen, geraubte Kulturgüter zurückzugeben. Ich weiß, dass es noch immer starke Stimmen gibt, die das kritisieren. Aber diese Stimmen sind viel leiser als noch vor 20 Jahren. Es gibt also eine positive Entwicklung. In meinen Augen ist das geradezu ein historischer Moment, den wir erleben.
In der Zeit des Kolonialismus und auch danach, in der Zeit des Postkolonialismus, wurden viele furchtbare Verbrechen begangen. Auf Sansibar war es eine Revolution, in vielen anderen Ländern folgte auf die Kolonisation ein Bürgerkrieg. Es gab so viele Grausamkeiten. Und wir müssen anfangen, Fragen zu stellen. Zu erzählen, was passiert ist. Wir können nicht einfach sagen: Die anderen waren schuld. Denn die Folgen des Kolonialismus spüren wir noch heute in vielen Krisen und Kriegen dieser Welt. Wir haben eine Verantwortung, uns mit dieser Zeit auseinanderzusetzen. Etwas darüber wissen zu wollen, ist dabei nur der erste Schritt. Aber es ist ein sehr wichtiger Schritt.
Als Sie Ihren Roman "Das versteinerte Herz" vor sieben Jahren veröffentlich haben, sagten Sie damals in einem Interview: "Ich fürchte, dass wir noch viel Zeit brauchen werden, um die Perspektive zu verändern." Nun hat sich, wie Sie sagen, vieles verändert. Die Museen und ihr Umgang mit geraubten Kulturgütern ist nur ein Teil davon. Glauben Sie, dass dies der richtige Weg ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Gurnah: Das hoffe ich natürlich. Und deswegen gehen wir diesen Weg ja weiter. Weil wir glauben, dass wir Gehör finden. Die Menschen möchten Bescheid wissen. Dass wir so wenig über die Zeit des Kolonialismus wissen, ist ja oft keine Absicht. Es wird einfach zu wenig darüber gesprochen, in den Schulen, in den Massenmedien. Wenn wir aber diese Geschichten erzählen, dann verändern wir das Denken. Nicht sofort, aber auf lange Sicht. Schauen Sie sich die junge Generation in England an. Sie haben in der Schule einen neuen, anderen Blick auf die Zeit des Kolonialismus gezeigt bekommen. Einen anderen Blick auf die Geschichte des britischen Empire und die Geschichte der Sklaverei, die auch die Geschichten der Unterdrückten erzählt. Vielleicht stand das nicht in allen Schulen auf dem Lehrplan, aber doch in sehr vielen. Und sie denken heute anders darüber als noch ihre Eltern. Und vielleicht beginnen dann auch die Eltern, einen anderen Blick einzunehmen, weil sie merken, dass ihre Kinder anders denken. Das sind Prozesse, die nur sehr langsam vorangehen. Aber ich denke, wir bewegen uns in die richtige Richtung.
Das Interview führte Jan Ehlert.