Ein Rucksack-Tourist steht an der Küste und schaut in die Ferne. © maikirmscher / Photocase; Foto: maikirmscher / Photocase;

Glosse: Die Poetik von Lehrpfadschildern und das Falschwandern

Stand: 19.05.2023 15:36 Uhr

Komm ins Grüne! Laut einer Studie des Deutschen Wanderverbands sind rund 70 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung aktive Wanderer. Lenore Lötsch gehört auch dazu - doch das Vergnügen will sich nicht immer und sofort einstellen.

von Lenore Lötsch

Die familiäre Wanderlust begann 2021: "Man muss mit der Zeit gehen!", dachte ich damals, und weil die Zeit sich den neuen Vornamen Corona gesucht hatte, wanderten wir im 15 Kilometer-Radius unserer Wohnung durch den Mecklenburger Fichtenwald: Am Ende dieses "Projekts" gab es einen Stoßseufzer der Tochter: "Mir fällt keine einzige Wanderung in meinem Leben ein, wo wir uns nicht verlaufen haben!"

Von Lehrpfaden und Fernwanderwegen

So, die Zeiten ändern sich, die Kinder gehen eigene Wege - von Geradlinigkeit ist da aus meiner mütterlichen Perspektive nicht viel zu erkennen; haben wir ihnen eben einen ausgeprägten Hang für Holz- und Umwege mitgegeben. Ist ja auch was auf der Habenseite!

Die nächste Wanderphase also: zu zweit in Schrittgeschwindigkeit durch den Wald. Blöd nur, dass wir inzwischen den eigenen Instinkten nicht mehr trauen, sondern Opfer der Outdoorforschung geworden sind. Die hat sich - laut unserer Erfahrung - zum Ziel gesetzt, die deutsche Wanderpotential-Landschaft mit Lehrpfaden zu bestücken.

Und schon steht man am Himmelfahrtstag in einem Schilderwald und träumt vom "Europäischen Fernwanderweg E 9 a". Und entscheidet sich für den "Gerhard-Schulze-Weg" als standortskundlichen Lehrpfad. Komisch, dass man hinter Standort ein "s" einfügt und hinter "Lehr" nicht. Stöhnen.

Wenn der Waldspaziergang zur Deutschstunde wird

Sie hören mein Problem: ein kurzer viereinhalb Kilometer langer Waldspaziergang in der Nähe von Blankenberg in Mecklenburg wird zur Deutschstunde, weil mein Mitwanderer gern liest. Also alles liest - und alle Fehler sucht. Findet er auch alle. Kein fehlendes Komma wird da links liegen gelassen. Alle bekommen ihren Auftritt.

Ziel ist es KOMMA die Naturraumfunktionen zu erhalten und zu verbessern. Ist langsam ein bisschen anstrengend. Vor allem, weil es nicht beim Deutschunterricht bleibt. Die Poetik von Lehrpfadbeschilderungstexten ist ganz nah dran am Biologie- oder Geographie-Leistungskurs - allerdings leistet sie sich kleine Ausflüge ins Verwaltungsdeutsch.

Auch fürs Auge ist was dabei: schematische Darstellungen der Landschaftsgestaltung durch einen Gletscher aus dem Standardwerk von Wagenbreth/ Steiner. Und es gibt genau einen Menschen, den ich kenne, der trotzdem jede Tafel liest. Und weil ich inzwischen demonstrativ die Aussicht genieße, liest er halt laut: "Fast alle Süd-Westhänge der Ostseite des Tals zeigen Spuren der Windverhagerung durch Laubverblasung." Ja, aber wir kommen ja nicht zu den Süd-Westhängen auf der Ostseite des Tals. Wie laufen nicht, wir lesen.

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Im Wald wird nicht gegendert!

Die Hälfte der Vanillewaffelpackung ist alle, die Zitronenlimonade auch - ja, wird sind auch beim Proviant eher unkonventionell unterwegs. Inzwischen geht’s lehrpfadtechnisch um den Gleichklang der natürlichen Waldgesellschaft.

Der Forstmann... oh, die Forstfrau gibt's nicht? Offenbar nicht. Im Wald wird nicht gegendert! Ein letztes Refugium also! Ab auf den Gerhard-Schulze-Weg in Mecklenburg! Unbedingt sollten Sie da auch achten auf: Mullartiger Moder, Moder, rohhumusartiger Moder, Rohhumus, Mager- und Hungerrohhumus.

Meine Diagnose: akuter Fall von Lehrpfaditis! Wer sitzt da in den Touristinformationen und Forstverwaltungen und denkt sich: Wir müssen mal was für die Wanderer tun! Und wem fällt dann der 253. Lehrpfad über mullartigen Moder ein, für den er Fördermittel bei der EU beantragt? Da scheint ein ganz großes Ding in Brüssel zu laufen in Bezug auf die deutsche Kulturlandschaft.

Wer war eigentlich Gerhard Schulze?

Nach einer solchen Lehrpfadwanderung, da stehen wir auf dem Parkplatz. Die Leute um uns herum sind selig und ausgepowert, reden sich mit Hase und Muckelchen an. Bei uns aber beschwert sich Chaolperix splendens, dass keine Waffel mehr übrig ist, während Isoperla Grammatica auf der Rückfahrt bitte kein Hörbuch hören möchte. Aber was jetzt der Rautenuferbold ist und wer die gebänderte Prachtlibelle, das müssen sie sich jetzt schon selbst erwandern. Gehard-Schulze-Lehrpfad! Und wir hätten da auch noch eine Frage:

Wer war Gerhard Schulze? Wars der Förster oder der Gärtner?

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 19.05.2023 | 17:30 Uhr

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