Ein Jahr zum Hassen und Lieben - Warum 2023 mit Sicherheit anders wird
Selten hat ein Jahr so schlechte Kritiken bekommen wie das jüngst verabschiedete 2022. Was lange unvorstellbar war oder als überwunden galt, prägte die Realität. Wird 2023 alles noch schlimmer?
Das Jahr 2022 war ein einziger Stresstest, sogar für jene, die sich durch Pessimismus gegen Unerfreuliches wappnen. Krieg, Inflation, eine große Krankheitswelle, zu schweigen von den sich mehrenden Vorzeichen der drohenden Klimakatastrophe. Was kommt 2023 auf uns zu? Es liegt in der Natur der Zukunft, dass wir nur spekulieren können. Aber es gibt Anhaltspunkte in Gegenwart und Vergangenheit. Gedanken von Ulrich Kühn, Abteilungsleiter Kunst und Kulturjournalismus im Programmbereich Kultur des NDR.
2022: Blick auf verstorbene Berühmtheiten
Die Zukunft hat etwas Magisches an sich, etwas Unwiderstehliches. Wir müssen zu ihr hin, das Leben bewegt uns auf sie zu. Anders geht es den Toten, sie haben die Zukunft hinter sich. Aber auch die Vergangenheit entfaltet magische Kraft. Wo eine Gesellschaft steht, zeigt sich vielleicht ganz gut daran, wie sie auf die Toten schaut, besonders auf die berühmten. Da bot das vergangene Jahr spektakulären Stoff.
Zuerst ging im September die Queen. Zum Jahresende dann Pelé, den sie den "König" nannten. Schließlich am Silvestertag der emeritierte Papst, den sein Rücktritt als ein Weltenkind wie jedes andere kenntlich gemacht hatte, obwohl er die Zukunft der Kirche in der "Entweltlichung" sah.
Diese Toten standen für Institutionen, die über alles erhaben schienen. Doch das Empire ist dahin, der alle verbindende Weltfußball ist final korrumpiert. Und die katholische Kirche? Hatte in Benedikt den Papst, dem es, wie Willi Winkler in der "Süddeutschen Zeitung" schrieb, "als erstem Theologen seit Martin Luther" gelang, "die Macht der katholischen Kirche zu erschüttern". Der Symbolwert dieser Tode wirkt einigermaßen gewaltig. Und wie das Zu-Grabe-getragen-Werden jeweils begleitet wurde - das wirkte zum Teil wie eine Lektion über einen neuen Personenkult, den der Zwang zu Fasslichkeit, Einfachheit und Überdeutlichkeit mächtig befeuert hat. Dieser Kult sprengt Filterblasen und folgt doch Gesetzen sozialer Medien: Verherrlichung zelebriert er nahe am Abgrund, Statuen baut er auf Treibsand. Der Blick auf diese großen Toten fixierte sich ganz auf das Gewesene. Das könnte von Angst zeugen vor dem, was kommt. Und von Bereitschaft zur Verdrängung.
War früher wirklich alles besser?
Interessanterweise entfaltet dieses Anhaften an der Vergangenheit in einem Moment seine Wucht, in dem sie doch gründlich infrage steht. Wer will im Ernst den Kolonialismus des Empire zurück? Wissen wir nicht ganz gut, dass der Fußball schon seine Wracks und Skandale hatte, bevor er ganz aus dem Ruder lief? Und war die katholische Kirche, als der Missbrauch noch ganz und gar in Kirchengemäuern verborgen war, ein durch und durch integrer Hort des wahrhaft christlichen Lebens?
Wenn tragende Institutionen Bindekraft verlieren, spiegelt sich das im Verhalten der Menschen. 2021 verließen 360.000 Menschen in Deutschland die katholische Kirche, 280.000 die evangelische. Rekord-Austrittszahlen.
Dem erodierenden Vertrauen in alte Institutionen gesellte sich in der Silvesternacht akuter Verlust an Respekt hinzu: Attacken auf Sanitäterinnen und auf Feuerwehrleute. Der Autoritätsentzug erfasst seit einigen Jahren auch helfende Menschen in Uniform, die Rettungs- und Schutzkompetenz bieten. Was Zusammenhalt stiften könnte, wird stattdessen angegriffen; zwar durch eine Minderheit, aber es kratzt doch am Gefüge. Debatten über Gründe, über Milieus und Herkunft wiederholen sich. Und wer das Höchstmaß an Strafe fordert, kann sich nebenbei leise fragen, wie sich das eigene Verhalten in sozialen Medien gestaltet. Ist es vielleicht auch - roher geworden? Unduldsamer? Aggressiver?
Zuversicht in apokalyptischen Zeiten
Bei alldem sind die übergroßen, übermächtigen Krisen noch nicht einmal benannt: Krieg, die drohende Klimakatastrophe, die tiefe Erschöpfung überall. Wohin soll das führen?
Gedanklich vielleicht am besten auf den Pfad der Behutsamkeit. Es fällt ja verdächtig leicht, all die verstörenden, komplex ineinander verschlungenen Zeichen als Niedergangs-Story zu lesen, die unaufhaltsam auf die Apokalypse zuläuft. Wird der Klimawandel schon im kommenden Sommer das wettermoderate Deutschland in eine Wüstenei verwandeln? Wird aus dem Ukraine-Krieg, da nun doch Panzer geliefert werden sollen, ein atomarer Weltenbrand? Wenn es so apokalyptisch zugeht, ist Skepsis keine ganz falsche Haltung, denn sie zweifelt an der Zwangsläufigkeit. Das bedeutet übersetzt: Zuversicht gegen den Augenschein, aber bei klarem Kopf. Nur, woher Zuversicht schöpfen in dieser gebeutelten Zeit?
Vielleicht aus dem Mut, kurz durchzuatmen und einen Halbschritt zurückzutreten. 2022 hat Monströses hervorgebracht, da liegt es ziemlich nahe, noch Schlimmeres zu erwarten. Als Putin seinen Krieg begann, war auch das Wort "Zeitenwende" gleich da. Wer aber spätestens in den 1970ern zur Welt kam, erlebt schon eine dritte oder vierte Zeitenwende. Chronologisch rückwärts: Der 11. September 2001 wurde so gedeutet. Die Exzesse in Ex-Jugoslawien hat man durchaus so wahrgenommen, die desillusionierende Schlächterei zwischen vormals friedlichen Nachbarn. Damals war schon "der Krieg zurück in Europa". Davor, in seiner ersten Phase maximal positiv besetzt, das Zeitenwendewunder schlechthin, der wie Butter schmelzende Eiserne Vorhang, die wie Spielklötze fallende tödliche Mauer. Und bei alledem immer wieder Krisen, die ans Existenzielle reichten: Ölkrise. Waldsterben. Die Atomangst der 1980er, wahrlich kein Hirngespinst bei kriminell kurzen Vorwarnzeiten.
Und was in jüngerer Zeit an Unvorstellbarem wirklich wurde: vom Brexit über Trump bis hinein in diese Woche, als im US-Repräsentantenhaus im ersten Wahlgang keiner die Mehrheit als Sprecher bekam, erstmals seit hundert Jahren - und auch im dritten Wahlgang nicht und nicht im zehnten und vierzehnten. Wer sagt, die Welt sei jenseits der aktuellen "Zeitenwende" niemals Karussell gefahren?
Vorsicht beim Vergleichen!
Aber was heißt das fürs neue Jahr? Der Historiker Joachim Radkau hat in seiner "Geschichte der Zukunft" lehrreich und amüsant gezeigt, wie grotesk daneben Zukunftsprognostiker liegen können, selbst bei größtem Sachverstand. Ein behutsames Plädoyer für leise Zuversicht darf also auf Prophetie verzichten. Francis Fukuyamas Erzählung über das Ende der Geschichte hat viel zu frappierend gezeigt, wie gründlich das Gegenwartsdeuten mit prophetischem Anspruch schiefgehen kann.
Geschichte in die Zukunft zu verlängern ist und bleibt ein heikles Geschäft, wenn auch ein derzeit erneut beliebtes: Die Metapher vom schlafwandlerischen Gang ins Desaster, vom Historiker Christopher Clark für den Weg in den Ersten Weltkrieg geprägt, wurde zum Boxring-Argument im deutschen Meinungskampf über Waffenlieferungen an die Ukraine. Die einen sagten: Wer Waffen liefert, schlafwandelt durch Beteiligung in den nächsten Weltkrieg. Die anderen: Wer es unterlässt, schlafwandelt durch Unterlassen.
Dies könnte also ein Vorsatz sein für das junge Jahr: Wir päppeln die darbende Diskurskultur auf, indem wir ein bisschen weniger grob mit Analogien herumfuchteln. Klar, sie können faszinieren. Und manchmal sind sie auch triftig. Nicht zufällig gibt es großartige Bücher übers Jahr 1923, das genau hundert Jahre zurückliegt - derlei verführt schon zum Vergleich. Es war ein Jahr "Im Rausch des Aufruhrs", mit dem Titel des Buchs von Christian Bommarius gesagt; ein deutsches Jahr, in dem ein Kilo Brot zu Anfang schon 250 Mark teuer war und bei rasender Inflation irgendwann 399 Milliarden. Auch jetzt herrscht Inflation, das ist keine Bagatelle, aber von solchen Dimensionen sind wir doch himmelweit entfernt. Und diese Demokratie hat inzwischen Geschichte. Die von Weimar war blutjung, den Menschen, die sie mit Leben füllten, steckte der Krieg noch in den Knochen.
Vom irischen Historiker Mark Jones, Autor des Werks "1923. Ein deutsches Trauma", stammt der Satz: "Die Weimarer Republik wiederholt sich nicht, aber wer die digitalen Bierkeller der Gegenwart verstehen will, wird aus dem Populismus dieser Zeit viel lernen." Vorsicht beim Vergleichen ist also sinnvoll. Andererseits aber spricht nichts dagegen, guten Historikern zuzuhören. Nach Beginn des russischen Angriffs öffneten sie die Debattenräume: Qualitätsmedien publizierten exzellente historische Expertisen zur Geschichte der Länder, zur Entwicklung von Putins Herrschaft, zur deutschen Russlandpolitik. Leider blieb es nicht dabei: Bald dominierten wieder Lautsprecher, Besserwisserinnen, selbstgewisse Moralisten. Dafür, dagegen - und dazwischen nichts? Selbst differenzierte Gedanken zum elementar verstörenden Krieg gerieten in die Mühlen dieses Lagerspiels. Sage mir, wie du zu Panzern stehst, und ich sage dir, wer du bist? Ein derart plumper Dualismus kann nicht im Ernst das letzte Wort sein.
Guter Vorsatz für 2023: Impulsabstinenz auf Zeit
Ein guter Vorsatz für 2023 könnte deshalb lauten, dieses Spiel zu überwinden. Eine Gesellschaft, überlastet durch das Viel-zu-Viele, geängstigt durch jede Menge Probleme, die sich kaum noch verdrängen lassen, begierig nach Klarheit und ein bisschen Erholung - diese überforderte Gesellschaft könnte anfangen davon abzulassen, andere nach ihren Ansichten zu sortieren. Oft sind es ja gar keine Ansichten, sondern nur eigene Projektionen. Daraus wächst kein Verständnis. Daraus wächst nur Unverstand und im schlimmsten Fall Hass.
Gefühle sind in Debatten wichtig, aber sie können nicht alles sein. Darum könnte ein Vorsatz fürs junge Jahr in dieser Formel stecken: Impulsabstinenz auf Zeit. Mal testen, ob es auch anders geht - und doch mit Schärfe und angeregt.
2023 könnte fantastisch anders werden
Überraschungs-Kanzler Scholz, der in puncto Brillanz noch hübsch Luft nach oben lässt, gewann seinen Wahlkampf mit dem Wort "Respekt". Dieser Plakatspruch muss praktischer werden. Respekt im Umgang mit anderen Menschen, Gedanken und Lebensumständen. Und, weil sonst alles nichts ist: im Umgang mit der Natur. Das lässt sich leicht im Kleinen erproben in diesem 2023. Könnte es auch im Größeren gehen?
Dafür bräuchte es Fantasie und Realismus zugleich. Die Bereitschaft, sich dem zu stellen, was ist. Und ausreichend Vorstellungskraft, um Schlechtes zu überwinden. Das ist zuerst nur ein Sonntagsspruch und ein schöner Traum. Aber deshalb gibt es ja Bücher: zum Beispiel Ulrike Herrmanns "Das Ende des Kapitalismus", ein großes Gedankenexperiment, auch wenn der Titel nach Kampfschrift riecht. Oder "Wir konnten auch anders" von Annette Kehnel, 2021 prämiert mit dem NDR Sachbuchpreis. Das Buch kann Augen öffnen und die Fantasie inspirieren. Würden wir aus Versehen beginnen, aus solchen Vorstellungswelten Realität zu schöpfen: Das junge 2023 könnte fantastisch anders werden. So viel Zuversicht muss sein.