Martin Walser (l) und Günter Grass unterhalten sich am Mittwoch (15.09.1999) in Hamburg vor dem Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks. © picture-alliance / dpa | Rolf_Rick
Martin Walser (l) und Günter Grass unterhalten sich am Mittwoch (15.09.1999) in Hamburg vor dem Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks. © picture-alliance / dpa | Rolf_Rick
Martin Walser (l) und Günter Grass unterhalten sich am Mittwoch (15.09.1999) in Hamburg vor dem Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks. © picture-alliance / dpa | Rolf_Rick
AUDIO: Dialog über Deutschland - Disput von Grass und Walser (86 Min)

Dialog über Deutschland - Disput von Grass und Walser

Stand: 02.06.2024 06:00 Uhr

Vor 30 Jahren stritten sich die Großschriftsteller auf Einladung von Stephan Lohr über Deutschland und die Einheit, Themen, die heute aktueller wirken denn je.

Zwölf Jahre lang hatten Günter Grass und Martin Walser, einst Weggefährten in der Gruppe 47, kein Wort mehr miteinander gewechselt. Sie waren politisch weit auseinandergedriftet und nahmen höchstens noch in Reden oder Essays Bezug aufeinander - meist äußerst kontrovers. Es ging um so gewichtige Themen wie "Nation" und "Einheit", um Deutschlands Zukunft und das Erbe von Auschwitz.

1994 gelang es Stephan Lohr, die beiden zum ersten Mal wieder von Angesicht zu Angesicht miteinander diskutieren zu lassen. Lohr, der das Gespräch moderierte, verstarb am 25. Mai dieses Jahres. Er hinterlässt zahlreiche Radiohöhepunkte wie diesen und tiefe Spuren im Gedächtnis vieler Menschen.

Weitere Informationen
Die Schriftsteller Martin Walser (l) und Günter Grass (r) im Jahr 2007 in Berlin. © picture-alliance/ dpa | Soeren Stache

Literaturkanon: Loblied auf die alten, weißen Männer

Mit Walser ist der wohl letzte der über die Literatur hinaus meinungsbildenden Literaten gestorben. Platz für eine diversere Sicht auf die Welt? Jürgen Deppe ist skeptisch.   mehr

Stephan Lohr: Martin Walser, vier Jahre nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands, fünf Jahre nach dem Fall der Mauer, wie bewerten Sie thesenhaft heute den Stand der Deutschen Einheit?

Martin Walser: Ich habe nicht täglich das Gefühl, dass das etwas sei, was ich zu bewerten habe, sondern ich habe täglich durch irgendeinen, meist politischen Anlass das Gefühl, dass ich mich immer noch freue, dass das geglückt ist, dass diese blödsinnige Trennung überwunden werden konnte. Diese Freude kann nicht restlos getrübt werden durch die Mühen des allmählichen Zusammenwachsens.

Lohr: Günter Grass, Ihr Resümee?

Günter Grass: Meine anfängliche Freude vom November '89, als die Mauer endlich fiel, ist bald danach geschwunden. Das Geschenk, das uns gemacht wurde - die Leistung lag ja eher bei den Tschechen und bei den Polen, und zum Schluss bei Gorbatschow, als bei uns -, ist verhunzt worden. Es liegt auf dieser möglichen Einheiten und Einigung kein Segen.

Lohr: Welche Rolle spielt dieser Streit, den Sie hier ausfechten, angesichts einer absehbaren Zukunft...?

Walser: Was mich angeht, ich habe da keine Zukunft im Sinn. Ich muss ja jeden Tag mit meinen Empfindungen und Erfahrungen leben. Das heißt also, ich muss auch mit der politischen Wirklichkeit leben, die mir zum größeren Teil serviert wird von einer politischen Verwaltung, die Günter wahnsinnig zerbröseln will. Kohl hat trotz dieser von Lafontaine angemahnten Fehleinschätzungen die geschichtliche Chance genutzt. Denn es war nicht für alle Monate in dem Jahr garantiert, dass mit der Sowjetunion noch verhandelt werden konnte, dass sie die Panzer in den Kasernen lässt. Denn ein paar Monate später hätte er mit jedem einzelnen dieser GUS-Staaten getrennt verhandeln müssen, und dann wäre es viel teurer gewesen als die 15 Milliarden für die Rückquartierung des russischen Militärs, die Waigel mit den Russen ausgehandelt hat. Günter, deswegen finde ich, Kohls Leistung nur aus Partei-Gesichtspunkten, ob er einem sympathisch ist oder nicht, ob er eine deutsche Sprache spricht...

Grass: Du solltest mich nicht auf Partei-Gesichtspunkte reduzieren. Ich tue das doch bei dir auch nicht.

Walser: Nein, es ist auch schwer. Trotzdem habe ich das Gefühl, die Einschätzung von Kohl unterliegt bei dir auch ein bisschen...

Grass: Erfahrung - es ist keine Meinung. Erfahrung mit einer fleischgewordenen Selbstherrlichkeit...

Walser: Du wirfst ihm seine Physis vor.

Grass: Ich habe dir doch auch zugehört, also reden wir doch nicht wie Politiker. Ich revidiere meinen Satz "Da liegt kein Segen drauf", indem ich ein "noch" hinzufüge: Da liegt noch kein Segen drauf.

Walser: Prima!

Das komplette Interview können Sie oben auf dieser Seite nachhören.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 02.06.2024 | 13:00 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Screenshot: Stargeiger Leonidas Kavakos beim Saisonabschlusskonzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters in der Elbphilharmonie Hamburg © NDR Foto: Screenshot
108 Min

Konzertmitschnitt: Saisonabschluss mit Gilbert & Kavakos

Leonidas Kavakos spielt mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester Mozarts Violinkonzert KV 216. Alan Gilbert leitet Dvořáks "Aus der Neuen Welt". 108 Min