Deutschland in Zeiten des Krieges: Was ist uns die Freiheit wert?
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat unbequeme Fragen aufgeworfen. Wären wir bereit, das Opfer des eigenen Lebens zu bringen, wenn Freiheit, Würde und Existenz durch militärische Gewalt bedroht werden?
Der junge Mann auf dem Foto steht im Gelände zwischen blanker Erde und hellem Grün. Er lächelt, ein wenig bemüht, sein freundliches offenes Gesicht wirkt entspannt, doch auf den zweiten Blick auch besorgt. Wie er da steht, lässig, unrasiert, könnte er in einem Pfadfindercamp sein. Aber das ist kein Abenteuerurlaub, das ist die Front irgendwo bei Isjum. Der Helm und die Tarnjacke lassen den Soldaten erkennen - und das Schützenloch, aus dem sein Oberkörper herausragt.
Roman Ratushny war 2013, damals gerade 16, unter den Demonstranten der ersten Maidan-Proteste. Er zählte zu denen, die von Polizisten des alten Regimes brutal niedergeknüppelt wurden. Diese Erfahrung hat ihn geprägt. Voller Neugier und Wissensdurst wurde er Aktivist, gründete eine Bürgerinitiative und kandidierte für den Stadtrat. Nach dem russischen Überfall im Februar meldete er sich freiwillig an die Front. Ein Journalist, der eine Reportage über sein Bataillon schrieb, schilderte den schmächtigen Mann als unglaublich quirlig, voller Ideen und Tatendrang: als die Seele seiner Einheit. Das Foto, ein Selfie, Ende Mai bei Twitter hochgeladen, ist sein letztes. Einige Tage später ist Roman Ratushny gefallen, keine 25 Jahre alt.
Die mentalen Nachwirkungen einer extremen Gewaltgeschichte
Was uns das angeht? Ziemlich viel? Oder herzlich wenig? Das ist die Frage, und sie zieht weitere nach sich: Warum war die Unterstützung für die Ukraine zunächst so zögerlich? Warum zeigen viele Deutsche bis heute wenig Einfühlungsvermögen für den dort geführten Existenzkampf? Warum sind viele indifferent oder bleiben ängstliche Zuschauer? Oder befürworten einen Frieden zulasten der Ukraine, nur um ihre Ruhe zu haben? Und wie kommt es, dass sich in gewissen "Deutschland zuerst!"-Parolen linke und rechte Populisten treffen? Solche Fragen führen zu den mentalen Nachwirkungen einer extremen Gewaltgeschichte. Die Erfahrung mit dem Angriffs- und Vernichtungskrieg des Naziregimes, das Massen mobilisierte und von außen niedergekämpft werden musste, brachte in Westdeutschland eine Melange aus Pazifismus, Wohlstands- und Sicherheitsdenken hervor. In Ostdeutschland dagegen dominierte ein vom SED-Regime verordneter Antifaschismus, das Heldengedenken in Buchenwald sowie eine "unverbrüchliche" Freundschaft mit den sowjetischen "Waffenbrüdern". Was aber hier wie da so naheliegend erschien, ist längst zum Problem geworden - und der russische Angriffskrieg macht es jäh sichtbar.
Wenn heute von einem Opfer die Rede ist, so geht es meist um jene, die Benachteiligungen erfahren, nicht um jene, die etwas für andere geben oder hingeben. "An die Stelle des Opfers, das man bringt, ist das Opfer getreten, das man ist", schrieb Bernhard Schlink unter dem Titel "Das Opfer des Lebens". Das trifft es. Dass Feuerwehrleute oder Polizistinnen unter Umständen ihr Leben verlieren, mag als Berufsrisiko noch hingehen. Aber befremdlich erscheint das solidarische Opfer des Lebens, ja es ist verpönt - zumal mit Blick auf alles Militärische.
Das einst Unvorstellbare ist inzwischen denkbar
Gut so!, möchte man aufatmen. Leben wir denn nicht in einer, wie es heißt, "postheroischen" Gesellschaft? Ja, man möchte es gerne glauben. Doch es könnte sein, dass nach der "Zeitenwende" auch in Deutschland das Opfer des Lebens verlangt und gebracht werden muss. Wie heute schon in den kleineren Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das einst Unvorstellbare ist inzwischen denkbar: Sobald Putin NATO-Gebiet angreifen lässt, wird Deutschland Kriegspartei.
Dass es "süß und ehrenhaft" sei, für das Vaterland zu sterben, galt in der Antike als fraglos richtig. Uns Heutigen liegt das so fern wie ein Kriegerdenkmal, dessen Inschrift über das Massensterben im Ersten Weltkrieg behauptet: "Das Vaterland darf jedes Opfer fordern. Nichts ist zu kostbar für das Vaterland." Solches Denken, befangen in nationalem Chauvinismus und Militarismus, ist ein für alle Mal diskreditiert. Völlig zu Recht. Dass die Deutschen gründlich gelernt haben, "nie wieder!" für Diktatur, Angriffskrieg und Völkermord zu bluten, ist ein Fortschritt. Es erledigt aber nicht die Frage, ob eine demokratische Gesellschaft unter gewissen Umständen das Opfer des Lebens überzeugend rechtfertigen kann.
Ein Blick auf die Aufstände im Warschauer Ghetto
Die historische Belastung durch den Nationalsozialismus hat noch einen zweiten Aspekt: So wenig die republiktreuen Deutschen 1933 in der Lage waren, den Furor der Nazis aufzuhalten, so wenig vermochte es später der weithin isolierte und ohnmächtige Widerstand, das Schreckensregime abzuschütteln. Die Befreiung musste von außen kommen; und bis die bedingungslose Kapitulation endlich erkämpft war, starben zahllose alliierte Soldaten - aus den USA, England oder der Sowjetunion, wo in der Roten Armee übrigens auch Ukrainer kämpften.
Nun wäre es ziemlich verstiegen, von den damaligen Deutschen eine Revolution gegen Hitler zu erwarten, zu der sie mehrheitlich wohl weder willens noch fähig waren. Aber unglückliche historische Konstellationen haben Konsequenzen; und Kämpfe, werden sie nun ausgefochten oder versäumt, spuken im kollektiven Gedächtnis. Ein Blick zurück nach Polen macht vielleicht die Unterschiede klar. Im April 1943 wagten im Warschauer Ghetto einige Hundert junge Leute, armselig ausgerüstet mit Molotowcocktails und alten Schusswaffen, den Aufstand. Sie wussten, dass sie keine Chance hatten, die Transporte in die Gaskammern zu stoppen. Doch sie wollten endlich kämpfen. Dann, im August 1944, schlug die polnische Untergrundarmee los - die blutigen Kämpfe gegen die Nazi-Besatzer dauerten acht Wochen, 15.000 Aufständische starben. Und der Terror von Wehrmacht und Waffen-SS, die Warschau dem Erdboden gleichmachten, kostete 200.000 Zivilisten das Leben - während die Rote Armee, die am jenseitigen Ufer der Weichsel in Stellung gegangen war, untätig blieb. Auch die Männer und Frauen der polnischen "Heimatarmee" fragten nicht bloß nach ihren Erfolgsaussichten. Denn es gibt Kämpfe um Freiheit und Würde, die trotz allem, um der Selbstachtung willen, geführt werden.
Der deutsche Sonderweg
Die historische Belastung der deutschen Nation geht aber noch hinter die Katastrophe des Nationalsozialismus zurück. Was die revolutionäre, oder sagen wir vorsichtiger emanzipative Verbindung von Freiheitsliebe und Militanz betrifft, so kann man für Deutschland nur eine tiefsitzende Erfahrungsarmut diagnostizieren.
Hier ist die vieldiskutierte Denkfigur vom deutschen "Sonderweg" in die westliche Moderne angesiedelt. "Im Kern geht es dabei um die Frage", so der Historiker Heinrich August Winkler, "wann Deutschland begonnen hatte, sich fundamental anders zu entwickeln als große westeuropäische Staaten wie Frankreich oder Großbritannien." Geschah das "erst mit der Herrschaft des Nationalsozialismus (…) oder schon sehr viel früher"? Fragt der Historiker und nennt etwa das Problem vordemokratischer und autoritärer Kontinuitäten zwischen dem Bismarckreich und dem "Dritten Reich". Hinzu kommt "das Ausbleiben einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution", das Scheitern der Revolutionäre von 1848, betont Winkler, denn es bildet das "Herzstück" der These vom deutschen Sonderweg. Damit aber steht zur Debatte, warum der deutsche Obrigkeitsstaat so langlebig war.
Max Weber wird der Satz zugeschrieben: "Das nationale Unglück Deutschlands ist, dass man nie einen Hohenzollern geköpft hat." Das klingt blutrünstig, dabei bringt es, freilich zugespitzt, nur eine reflektierte Trauer zum Ausdruck. Webers Bilanz der deutschen Obrigkeitsreligion speist sich aus dem Entsetzen über all das sinnlos vergossene Blut, die unerhörte Zerstörung menschlichen Glücks, die Enttäuschung menschlicher Hoffnung - kurz: aus dem Entsetzen über die glücklose Existenz eines zur Revolution unfähigen Volkes.
Eine schwer kalkulierbare Hypothek
So viel zu den Belastungen und Kontinuitätsproblemen der deutschen Geschichte, die voller Gewalt, doch arm an Barrikaden ist. 1944, im aufständischen Paris, beschwor Albert Camus "das Blut der Freiheit"; es wird heute in der Ukraine vergossen. Und die Frage, was uns das angeht, ist, wie gezeigt, Teil des Problems. Der deutsche Sonderweg ging 1945 zu Ende. Aus der aufgenötigten, der geschenkten Demokratie hat Deutschland etwas erstaunlich Gutes gemacht. Trotzdem bleiben gescheiterte bürgerliche Revolution und ausgebliebene Selbstbefreiung vom Naziregime bis heute eine schwer kalkulierbare Hypothek. Erst in Augenblicken der Krise wird sichtbar, dass die so friedliche, auf Diskussion und Kompromiss angelegte demokratische Lebensform durchaus eine existenzielle Dimension hat. "Sollte Deutschland tatsächlich (einmal) in die Lage geraten, von seinen Soldaten, Polizisten, Feuerwehrmännern und auch Bürgern in größerer Zahl das Opfer des Lebens verlangen zu müssen", schrieb Bernhard Schlink 2005, "ist es schlecht vorbereitet." Das gilt bis heute. Höchste Zeit, in einem Land, wo einst Millionen für die Unfreiheit starben, darüber nachzudenken, warum allenfalls Freiheit und Würde das Opfer des Lebens wert sind.
Und Roman Ratushny? Er tat das für ihn Naheliegende, einfach das, was getan werden musste im Kampf gegen die Invasoren. Er hatte sicher Besseres vor, als ein toter Held zu werden.