Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, gestikuliert bei einer Veranstaltung auf einem Podium. © dpa picture alliance/Flashpic Foto: Jens Krick
Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, gestikuliert bei einer Veranstaltung auf einem Podium. © dpa picture alliance/Flashpic Foto: Jens Krick
Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, gestikuliert bei einer Veranstaltung auf einem Podium. © dpa picture alliance/Flashpic Foto: Jens Krick
AUDIO: Debattenkultur: Wenn das Ausrufezeichen zur Spaltung der Gesellschaft führt (8 Min)

Debattenkultur: Wenn das Ausrufezeichen die Gesellschaft spaltet

Stand: 04.03.2024 16:35 Uhr

Das Ausrufezeichen wird immer beliebter. Im Netz, aber auch in der Politik wird es gerne genutzt und steht nicht unbedingt für eine entspannte Debattenkultur. Mangelnde Diskussionsbereitschaft ist die Folge.

Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke meint im Interview: "Wir müssen ungeheuer aufpassen, dass diese Kultur des Ausrufezeichens nicht zu manifester Gewalt wird. Dann geht jede Demokratie zugrunde." Seine Lösung: "Das Fragezeichen wäre ein großer Gewinn."

Herr von Lucke, Sie beobachten den politischen Betrieb schon sehr lange. Wie haben sich Rede und Zeichensetzung verändert?

Albrecht von Lucke: In der Tat ist das Ausrufezeichen immer größer geworden. Ausrufezeichen bedeutet in gewisser Weise das Schreien nach "Hör mir zu!" Es ist nicht die Formulierung einer Frage: Könnte die Position so oder so sein? Sondern es ist der maximale Ausstoß der eigenen Behauptung. Wenn man in Bildern denkt, dann wird man sagen müssen: Man hat meistens nicht nur ein Ausrufezeichen, sondern oftmals sind es zwei oder drei hintereinander. Das ist eine gewisse hermetische Abriegelung der eigenen Argumentation, die wir heute mit Blasen assoziieren, mit Echoräumen, in denen man sich verstärkend der eigenen Meinung vergewissert, ohne bereit zu sein, andere Meinungen überhaupt anzuhören.

Wie kommt es, dass sich das so verändert hat?

Von Lucke: Es hat viele Gründe. Im politischen Raum müssen wir feststellen, dass wir eine enorme Verunsicherung erleben. Das ist seit geraumer Zeit im Gang. Diese Tradition, die man schon leider fast "fatale Tradition" nennen muss, beginnt mit der 2000er-Wende, da setzt die Krisenhaftigkeit ein. Wir haben große ökonomische Krisen. Ich rede noch nicht von der ökologischen Krise, die eigentlich alles überwölbt und in gewisser Weise bisher meistens ein kleineres Ausrufezeichen kennt. Hier sind das vehementeste Ausrufezeichen die Klima-Kleber, die sich auf die Straße gesetzt und da ihr Ausrufezeichen gesetzt haben.

Aber der Beginn dieses Ausrufezeichens ist der Beginn der Wutbürger, die man in die erste Dekade des dritten Jahrtausends, also von 2000 bis 2010, setzen muss. Das fing an mit "Stuttgart 21", aber da hatte es noch eine moderate Form. Es wurde dann aber sehr schnell abgelöst von der Sarrazin-Debatte. Das Aufkommen von Pegida und der AfD und vor allem die große Fluchtkrise 2015 führten dazu, dass die Wut, die sich auf der Straße artikulierte, letztlich immer größer wurde. Wenn wir beispielsweise an den Protest in Biberach denken, an die Blockade einer Grünen-Parteiveranstaltung, auch anderer Couleur, wo es mittlerweile regelrecht zu Gewalt kommt - da wird das Ausrufezeichen in brutalster Weise manifest und ist eines, was gar nicht mehr bereit ist, in den Diskurs und die Debatte zu gehen. Das hat einerseits mit einer Form von Verunsicherung zu tun, aber vor allem auch von Absolutsetzung der eigenen Meinung.

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Inwiefern spielt das Internet da eine große Rolle?

Von Lucke: Eine riesige Rolle. Dieser Dunst der Anonymität ist etwas, was derartig schützend wirkt - interessanterweise nicht nur im Raum von TikTok oder irgendwelchen Kommentaren, sondern es ist bereits auch in den Mails unterwegs. Wir sind direkt mit Kommentaren konfrontiert, die interessanterweise oft sogar mit dem Namen gezeichnet sind. Alleine, dass die Kommentare digitalisiert sind, dass sie nicht mehr das Face-to-Face kennen, nicht mehr das Gegenüber sehen, das hat eine derartig enthemmende und sich verstärkende Wirkung, die fatal ist. Wenn die Verstärkung auch damit einhergeht, dass man sich dem anderen Argument gar nicht mehr aussetzt, weil man ständig in einem zum Teil durch Algorithmen bestimmten Dunstkreis von Gleichgesinnten unterwegs ist, dann findet nur noch Verstärkung der eigenen Meinung statt. Und das, was für jede Form von Debatte so entscheidend ist, für jede Form von Demokratie, aber auch der direkte Austausch von Angesicht zu Angesicht, fällt flach, fällt aus. Das finde ich dramatisch.

Das ist übrigens ein Phänomen, was wir gerade auch bei jüngeren Generationen leider erleben: Der öffentliche Raum, der früher der war, wo man sich zu Rede und Gegenrede traf, beispielsweise bei öffentlichen Vorträgen oder bei Veranstaltungen von Volkshochschulen, ist mittlerweile einer, der nur noch von den Alten frequentiert wird, die das gewöhnt sind. Die jüngeren Generationen diskutieren in der Regel fast nur noch digital. Darüber geht ein weiter Bereich verloren, der früher sich es zugemutet hat, den anderen zu sehen, auch seine Argumente zu hören und sie eben nicht gleich mit dem dreifachen Ausrufezeichen kleinkriegen und mundtot machen konnte.

Welche Eskalationsstufe ist in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel erreicht?

Von Lucke: Diese hat alle Dimensionen gesprengt. Das ist ein Akt des Terroristischen, den wir zum Glück in dieser Form in Deutschland nicht hatten. Die Gefahr, dass sich derartige Konflikte mittlerweile auf deutschen Straßen abspielen, weil die Fronten so verhärtet sind, führt dazu, dass auch auf den deutschen Straßen eine Sprachlosigkeit, eine Kompromisslosigkeit Platz greift - bis zu massiven tätlichen Attacken, im jüngsten Fall eines Palästinensers auf einen Israeli beziehungsweise Juden.

Wir müssen ungeheuer aufpassen, dass diese Kultur des Ausrufezeichens, die in dem Bild des Ausrufezeichens immerhin noch eine rhetorische, eine wörtliche ist, nicht zu manifester Gewalt wird. Dann ist so etwas da wie völliger Abbruch von Kommunikation, von Debatte - und damit ist letztlich die Grundlage jeder Demokratie zerstört. Ich glaube tatsächlich, dass wir Gefahr laufen, uns einer solchen Schwelle zu nähern. Hans Magnus Enzensberger hat vor Jahren mal von Aussichten auf den Bürgerkrieg gesprochen. Das wäre das Fatale: Wenn obendrein die staatlichen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, einen solchen Konflikt zu befrieden, dann geht jede Demokratie zugrunde, dann erleidet sie Schiffbruch, wie wir das beispielsweise vor 100 Jahren in der Weimarer Republik erlebt haben.

Was bräuchte es jetzt, welche Satzzeichen, um eine Diskussionskultur zu etablieren, wo alles ein bisschen friedlicher zugeht?

Von Lucke: Ich finde das Bild des Satzzeichens wunderbar. Ich sagte ja bereits: Das Fragezeichen wäre ein großer Gewinn. Wenn man dem anderen eine Frage stellt - Könnte es nicht so sein? -, dann zieht man ihn in eine Debatte. Das wäre ein riesiger Schritt, weil man damit auch versucht, das eigene Argument in eher moderater Form zur Sprache zu bringen. Ich würde sogar sagen, schon der Punkt und nicht das Ausrufezeichen, das einen förmlich anschreit, wäre ein Gewinn. Es wird wieder erforderlich sein, diesen Schritt zurückzugehen, Argumente des anderen zu hören, jenseits der Tatsache, dass man auch manche Argumente hart ins Aus befördern muss. Es gibt natürlich Argumente, die wir nicht als auf dem Boden des Grundgesetzes befindlich begreifen und die müssen durchaus hart gekontert werden. Aber bei vielen anderen Argumenten wird man erst wieder lernen müssen, überhaupt den anderen zu hören. Dann wird die Demokratie wieder stärker werden.

Das Interview führte Julia Westlake.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal Gespräch | 04.03.2024 | 16:30 Uhr

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