Alte Schrift, neue Medien: Twitter-Community hilft, Brief zu übersetzen
Weil der Landesrabbiner von Hamburg, Shlomo Bistritzky, einen alten Brief an seinen Großvater nicht entziffern konnte, stellte er ihn online auf Twitter. Es folgte eine Welle der Hilfsbereitschaft.
"Ich würde es auch gern versuchen mit dem Entziffern und bitte um eine bessere Foto-Datei. Danke!"
"Das würde ich gern für Sie übernehmen. Wenn Sie mögen und können, senden Sie mir dafür den Scan in besserer Auflösung."
"Ich habe versucht, den Brief zu entziffern, das ist aber zu lang für einen Tweet."
"Tolle Unterstützung, ist Twitter doch noch was wert!"
"Ich finde es großartig, wie hier geholfen wird."
Twitter-Kommentare
So kann Twitter auch klingen: hilfsbereit, offen, neugierig. Rabbiner Shlomo Bistritzky hat einen alten Brief wiederentdeckt, geschrieben an seinen Großvater. Er konnte ihn aber nicht entziffern und stellte ihn am israelischen Gedenktag für die Opfer der Shoah, dem 18. April, bei Twitter online.
Twitter-User beginnen mit Detektiv-Arbeit
"Ich überlege immer: Was kann man Interessantes zeigen? Nicht nur traurige Dinge, weil die Leute davon genug haben. Es sollte etwas Besonderes sein, entweder etwas, das mit Hamburg zu tun hat, oder von mir persönlich", sagt Shlomo Bistritzky. "Die Menschen lieben das, die spüren, dass das etwas Persönliches ist. Das war relativ spontan, dass ich die Leute gefragt habe, ob sie mir helfen können."
Danach stand sein Account nicht still: Viele wollten dabei helfen, den Brief zu übersetzen. "Die Reaktion war enorm, ganz groß", berichtet Shlomo Bistritzky. Eine regelrechte Detektiv-Arbeit begann. Eine Frau aus Bonn schickte eine fast komplette Übersetzung mit nur wenigen Lücken. Shlomo Bistritzky liest den Beginn des Briefes vor:
Teuerster Bruder, deinen schwer erwarteten Brief haben wir mit großer Freude erhalten, wir sind Gott sei Dank alle gesund. Brief-Übersetzung
Ein Brief an Bistritzkys Großvater, direkt nach dem Holocaust
Der Brief ist eine Stimme aus dunkelster Vergangenheit, unmittelbar nach dem Holocaust, der Shoah, geschrieben, auf fleckigem Papier, die Schrift kaum noch zu erkennen. Der Rabbiner beugt sich über sein Smartphone, auf dem er einen Scan des Briefes hat. "Es ist Altdeutsch. Es sind drei, vier verschiedene Handschriften. Es ist schwer zu lesen."
Teuerster Bruder, über dein Schreiben haben wir uns sehr gefreut, schreibe mehr! Brief-Übersetzung
Geschrieben haben ihn hintereinander die Schwestern von Shlomo Bistritzkys Großvater. Sie hatten 1945 gehört, dass ihr Bruder die Shoah überlebt hatte, als Flüchtling in Frankreich. Auch die Mutter meldet sich in eng geschriebenen Zeilen zu Wort.
Die Erinnerung lebt weiter - dank vieler Helfer
Die Vorstellung ist schwer erträglich: Die Frauen hatten Konzentrationslager, Verfolgung, Vertreibung gerade überlebt - aber die allermeisten nicht. "Der Krieg ist vorbei, aber erst jetzt beginnt die Suche: Was ist mit unseren Verwandten? Der Brief ist ein Ausdruck der Freude darüber, dass der Bruder lebt", so der Rabbiner. Anders als die beiden Brüder des Großvaters, nach denen die Mutter im Brief fragt. Sie waren da schon von den Nazis ermordet.
Shlomo Bistritzky holt tief Luft: "Man denkt sehr viel darüber nach, was die Menschen erlebt haben. Es ist schwer, sich das heute vorzustellen. Wir sind alle vernetzt, im Kontakt, jeder weiß immer, wo der andere ist. Eine Mutter, die weiß nicht, wo die Kinder sind - das ist nicht einfach."
Ein authentisches Dokument beginnt wieder zu sprechen, mithilfe vieler Menschen - die wollen, dass es spricht. Auch so lebt Erinnerung weiter, gemeinsam, bei Twitter.